Zu gesundes Essen ist auch ungesund

Die Diätologen stellen eine Zunahme von Orthorexia nervosa fest – vor allem Männer sind gefährdet.

Zur Hauptspeise gibt's nicht selten Verwirrung: Was und wie viel soll serviert werden, um gesund und schlank zu bleiben oder zu werden? Welche Diät ist die beste? Über wenige Themen wird so viel geredet und gerätselt wie über Ernährung und Gewicht. Der Überfluss an Nahrungsmitteln führt einerseits zu üppiger Schlemmerei mit drastischen Gewichtsfolgen. Andererseits nimmt eine Fixierung auf qualitativ hochwertiges Essen, auf Nahrungsergänzungsmittel und auf krank machende Diäten zu – auch unter Männern.

„Alle Essstörungen sind multifaktoriell bedingt“, erklärte Univ.-Prof. Dr. Johann Kinzl von der Klinischen Abteilung für Psychosomatische Medizin der Innsbrucker Universitätsklinik für Psychiatrie auf dem 27.Ernährungskongress der Diätologen Österreichs in Wien. Das gilt auch für Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Ess-Brech-Sucht).

„Beide Essstörungen sind schwere Erkrankungen, die interdisziplinäre Hilfe für die Bewältigung dieser manchmal sogar lebensbedrohlichen Situation erfordern“, sagt der Facharzt. In schweren Fällen treten Knochenabbau, Infertilität und abnehmende Hirnleistung auf. Die Betroffenen verschweigen meist ihre Probleme. Umso wichtiger ist es, dass Eltern, Freunde und Lehrer jedes veränderte Verhalten beobachten und nach den Ursachen fragen. Oft ist dieses Verhalten ein Hilfeschrei. Ohne psychotherapeutische Betreuung geht es in den meisten Fällen nicht. Doch nur in Tirol übernehmen die Kassen eine angepasste Vergütung der Kosten.

Eine relativ neue Essstörung ist die Orthorexia nervosa, die 1997 erstmals in den USA beschrieben wurde. Bei dieser Essstörung geht es um eine Fixierung auf gesundes Essen. Zunächst beginnt alles ganz harmlos, man beschäftigt sich mit Ernährungsfragen, liest Fachbücher, schaut ins Internet – und beschließt, nur mehr ganz gesund und hochwertig zu essen, vom Biobauern und aus dem Reformladen, vielleicht vegetarisch, zumindest keine tierischen Fette.

Hoher sozialer Preis

„Dagegen ist ja grundsätzlich nichts einzuwenden“, meinte Diätologin Alice Angermann aus Innsbruck. „Die Sache kippt jedoch, wenn die Nahrung einen immer größeren Stellenwert im Leben des Betroffenen einnimmt.“ Oft begünstigen Stress oder mangelnde Persönlichkeitsfindung diese Fixierung – auch mit dramatischen sozialen Folgen. Restaurantbesuche stellen die Partnerschaft auf eine schwere Probe, gemeinsame Essen mit Kollegen in der Kantine werden verweigert, es kommt zu einer Ausgrenzung. Der Betroffene sieht das jedoch anders, er steht zu seiner „Haltestrategie“ und meint, alles im Griff zu haben. Allerdings kann auch die Orthorexia nervosa zu Mangelerscheinungen führen, mit bulimischen und anorektischen Phasen.

Internationale Studien zeigen mittlerweile, dass nicht nur Frauen, sondern auch immer mehr Männer zwischen 30 und 40 Jahren, die beruflich erfolgreich und angesehen sind, Gefahr laufen, diesem „Esskult“ zu verfallen. „Das kann mit einer nicht eingestandenen Midlife-Crisis, zu viel Druck am Arbeitsplatz oder mit übertriebenem Ehrgeiz beim Sport zusammenhängen“, meint Diätologin Angermann. Die Fixierung auf wertvolles Essen bietet da ein Gefühl der Selbstkontrolle. Aus diesem aufwendigen Lebensstil wieder herauszufinden ist nicht leicht und bedarf einer begleitenden Psychotherapie.

Zu dick

42 Prozent der Erwachsenen
in Österreich sind übergewichtig, mehr als 900.000 fettleibig.

Buchtipps: „Fasten, Auszeit für Körper, Geist und Seele, Ihr Weg zu neuer Leichtigkeit“. Ulrike Borovnyak, Eduard Pesina. Gräfe und Unzer Verlag, 192 Seiten, €19,90.
„Change, das Lifestyle-Abnehmprogramm. Mit körpereigenen Hormonen spielerisch abnehmen.“ Christian Matthai. Kneipp Verlag, 140 Seiten, € 17,90.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2010)

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