Reportage

Wenn die Babyboomer in Pension gehen

Der „Babyboom“ begann in Österreich im Jahr 1956.
Der „Babyboom“ begann in Österreich im Jahr 1956.(c) The Paul Kaye Collection / Mary Evans / picturedesk.com/ APA (The Paul Kaye Collection)
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Die geburtenstärksten Jahrgänge der Nachkriegszeit räumen das Arbeitsfeld. In den Unternehmen spürt man das längst – und trifft Vorkehrungen. Die „Presse am Sonntag“ hat sich umgehört.

Das Pensionsloch ist etwas für andere. Jedenfalls nicht für jene 200 Menschen, die Brigitte Irowec schon angeheuert hat. Die Managerin hat viele Bekannte nach der Pensionierung in ein Loch fallen sehen. Status, Kontakte, das Gefühl, einen Beitrag zu leisten – „ein paar Dinge lässt man mit der Pensionierung immer im Büro“. Wer unvorbereitet gehe, drohe abzustürzen, wenn ihm diese Dinge abhandenkommen, sagt sie. Deshalb organisiert sie Lauftreffs, Tanzveranstaltungen und Ausstellungsbesuche für Menschen kurz vor dem oder im Ruhestand. Zusammen sind sie „The Rocking Community“. Ausflüge zu gemeinnützigen Organisationen gehören auch zum Programm – der eine oder andere findet so zu einem Ehrenamt, wenn sein Brotberuf altersbedingt wegfällt. Weil: „Das Einzige, was man nicht im Büro lässt, sind Wissen und Kompetenzen.“

Brigitte Irowec, Jahrgang 1967, steht stellvertretend für eine Generation, die sich nun schrittweise aus dem Arbeitsmarkt und in den Ruhestand verabschiedet. Die „Babyboomer“, die geburtenstärksten Jahrgänge der Nachkriegszeit, räumen das Feld. Und das wird tiefe Krater in den Unternehmen, der Volkswirtschaft und im Pensionssystem hinterlassen.

Reformen dringend gefordert. Die Pensionierungswelle rollt seit 2015, aber erst sachte. Zwischen 2019 und 2034 kommen rund 1,9 Millionen „Babyboomer“ ins Pensionsalter, hat der Pensionsexperte Bernd Marin ermittelt. Er rechne mit einem „gewaltigen Schock“ für das Pensionssystem. Die Zahl der Pensionsberechtigten werde binnen 15 Jahren um über eine Million auf mehr als drei Millionen ansteigen. „Das ist eine Explosion der Zahl der Älteren“, sagt Marin. Die Allianz Versicherung warnte in einer brisanten Studie schon vor Jahren davor, dass der Babyboom für viele Länder, darunter Österreich, zum Pensionsproblem wird. Und die einflussreiche Industrieländerorganisation OECD fordert von ihren Mitgliedern wegen der raschen Bevölkerungsalterung dringend Reformen, um Menschen länger im Job zu halten. Sonst könnten im Jahr 2050 auf 100 Arbeitnehmer schon 58 Ruheständler und nicht erwerbstätige Über-50-Jährige kommen. 2008 waren es noch 42.

(c) Die Presse

Es pressiert also. Während der Schock für das Pensionssystem noch bevorsteht, sind die Folgen in den heimischen Unternehmen längst spürbar. Die österreichische Staatsbahn ÖBB geht mit dem drohenden Personalproblem recht offensiv um. In den nächsten vier bis fünf Jahren werden dort 10.000 Stellen vakant. „Der Generationenwechsel steuert jetzt seinem Höhepunkt entgegen“, formuliert es Konzernsprecher Robert Lechner. In den Jahren 2022 und 2023 rechnet man mit je 1600 bis 1700 pensionsbedingten Abgängen. Da stellt sich die Frage: Wie sollen die alle ersetzt werden?

Buslenker, Zugführer, Techniker, IT-Experten: In Zeiten des allseits beklagten Fachkräftemangels keine leichte Aufgabe, sie zu finden. „Man muss es hinkriegen, sich als interessanten Arbeitgeber zu positionieren“, so Lechner. Die Staatsbahn profitiert von einem aktuellen Thema – und sieht sich als Schlüssel für die Bemühungen zum Klimaschutz. Aber das allein macht noch keinen begehrten Arbeitgeber. Also lockt die Bahn mit Goodies wie Dienstwohnungen und internen Aufstiegs- und Weiterbildungsmöglichkeiten. „Das ist natürlich ein hartes Match um die besten Köpfe. Man ist ja nicht allein mit dem Thema.“

Das kennt man auch in einem anderen großen Unternehmen: den Wiener Stadtwerken, zu denen mit ihren 15.300 Beschäftigten die Wien Energie, die Wiener Linien und die Wipark Garagen gehören. In manchen Bereichen verabschieden sich dort in den nächsten zehn Jahren bis zu 35 Prozent der Belegschaft in die Pension. Deshalb setzt man vor allem auf die Ausbildung des Nachwuchses, mit 100 Lehrlingen pro Jahr. „Ein Großteil der jungen Menschen bleibt nach der Lehre im Unternehmen“, so die für die Wiener Stadtwerke zuständige Stadträtin Ulli Sima. Manche sogar ein Berufsleben lang. Zum Teil handelt es sich um sensible, aufwendige Jobs, die sich schwer nachbesetzen lassen: Die Ausbildung zum Kraftwerkstechniker dauert bis zum Meister sieben Jahre. Verständlich, dass man bei den Stadtwerken viel daran setzt, sie auch zu halten. Und zu finden: Um für die Jungen attraktiv zu sein, habe man die Lehrlingsgehälter um zehn Prozent angehoben, heißt es dort.

Die Bahn nimmt jedes Jahr um die 600 Lehrlinge auf. Auch dort gilt das Motto: Wer sich beruflich verändern will, muss nicht den Konzern verlassen. Auf der ÖBB-internen Jobbörse kann man sich nach Alternativen umschauen. Es scheint heute durchaus wieder en vogue zu sein, ein Berufsleben lang im selben Unternehmen zu bleiben.


Vom Boom bis heute. Der „Babyboom“ begann in Österreich im Jahr 1956. Die Geburtenrate stieg damals stark an und erreichte ihren Höhepunkt sieben Jahre später mit 2,82 Kindern pro Frau. 1963 wurden in Österreich 134.809 Kinder geboren (siehe Grafik). Ab 1969 nahmen die Geburten rapide ab. Der „Babyslump“ (übersetzt etwa „Babyabschwung“) erreichte seinen Tiefpunkt im Jahr 2001 mit 75.458 Babys. Er war in Europa stärker und dauerte länger an als in anderen Teilen der Welt.

Brigitte Irowec organisiert Lauftreffs und Ausstellungs- besuche für Menschen kurz vor dem oder im Ruhestand.
Brigitte Irowec organisiert Lauftreffs und Ausstellungs- besuche für Menschen kurz vor dem oder im Ruhestand.(c) Daniel Novotny

„Österreich ist deshalb schon lang auf Zuwanderung angewiesen, nur um unsere Einwohnerschaft zu erhalten“, sagt Pensionsexperte Marin.

Die Alterung lässt kaum einen Wirtschafts- und Gesellschaftsbereich aus. Stark trifft es das Schulwesen: An den heimischen Volksschulen sind 38 Prozent der Lehrer 50 Jahre alt oder älter. In der Unterstufe sind schon fast die Hälfte der Lehrer älter als 50.

Auch das Gesundheits- und Pflegewesen steuert auf eine Pensionswelle zu. „In den nächsten fünf Jahren gehen rund zehn Prozent unserer Belegschaft in Pension“, sagt Christian Hennefeind, stellvertretender Geschäftsführer des Fonds Soziales Wien. Der FSW und seine Tochterfirmen bieten Leistungen in der Pflege, Flüchtlings- und Obdachlosenbetreuung und Gesundheitsberatung an. Alles Knochenjobs – was sich in der internen Pensionsstatistik niederschlägt: Ein Drittel der Pensionierungen findet vor dem gesetzlichen Pensionsalter statt. „Betriebliches Gesundheitsmanagement“ ist deshalb das Wort der Stunde. Der FSW befragt seine Mitarbeiter regelmäßig, wie es ihnen geht und was sie brauchen, um fit zu bleiben. Das Unternehmen organisiert Kurse in Yoga, Walking, Laufen. Trainer bringen den Beschäftigten bei, wie sie sich schnell ein gesundes Mittagessen zubereiten. „Wir wollen, dass unsere Mitarbeiter so lang wie möglich gesund ihre Arbeit machen können“, sagt Hennefeind.

Kein Gesundheitsmanagement zu haben, kann sich heute kaum ein großes Unternehmen erlauben. „Die Betriebe bemühen sich, dass sie die Menschen zumindest bis zum gesetzlichen Pensionsantrittsalter halten“, sagt die Beraterin Irene Kloimüller. Und immer mehr Firmen wollten ihre Ex-Mitarbeiter auch in der Pension halten. Aber, weniger in einer vollen Beschäftigung, oft lieber geringfügig oder als Konsulenten. Der Vorteil ist klar: Wer das gesetzliche Pensionsalter erreicht hat, darf ohne Limit dazuverdienen. Der Pensionist hat zwei Einkommen, die Firma spart sich eine Vollzeitstelle, kann die Expertise aber weiter nützen. Zum Beispiel bei saisonalem Personalmangel, wie in der Urlaubszeit. Nachgefragt würden freilich vor allem Höherqualifizierte, sagt Kloimüller.

Beim Energiekonzern Verbund gehen in den nächsten zehn Jahren 28 Prozent der Belegschaft in Pension. Auch der Wiener Krankenanstaltsverbund sorgt für die Pensionswelle vor. Pro Jahr schließen mehr als 500 Pflegefachkräfte die interne Ausbildung ab. Weil der Beruf als anstrengend gilt und die Arbeitszeiten als schlecht planbar, klagt die Branche über Nachwuchsprobleme. Darum sei es „ganz wichtig, am Image des Pflegeberufs zu arbeiten“, sagt KAV-Sprecher Markus Pederiva.


Rufe der Experten verhallen. Die Folgen für das österreichische Pensionssystem werden sich erst zeigen. Während die Unternehmen ihre Vorkehrungen treffen, gibt es aktuell keinerlei politischen Bestrebungen für eine Pensionsreform. Die vielen lauten Rufe der Experten verhallen von der Politik ungehört. Dabei führt an der Reform kein Weg vorbei – je früher, desto sanfter die Einschnitte, wie der Experte Bernd Marin sagt: „Das Einzige, was sofort hilft: jeder Tag, jede Woche, jeder Monat, den wir gesetzlich länger arbeiten. Und das ab sofort.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2019)

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