Leon throws his brother Samuel in the air as they play outside their home in the shanty town settlement of El Gallinero, in the outskirts of Madrid
Abwanderung aus Osteuropa

Die rumänische Stadt in Spanien

Als Arbeiter, Kellner und Putzfrauen sind sie eingewandert, heute stützen ihre Kinder das Sozialsystem: Seit mehr als 20 Jahren sind Rumänen in Spanien ein zentraler Wirtschaftsfaktor.

Im „El Ebro“ an der Calle de Marcelo von Usera sitzen an diesem frühen Juliabend Paco und Leticia an der Bar. Zwei Radler stehen vor ihnen an der Theke, auf einem Teller liegt eine halb aufgegessene Tortilla. Draußen, vor den Supermärkten des als „Chinatown“ bekannten Vororts im Süden Madrids, gammeln Mangos und Bananen in der Abendsonne vor sich hin. „Es gibt gute und schlechte Leute“, sagt Paco. „Wenn sie arbeiten, okay, aber viele schlafen einfach nur“, ergänzt Leticia. Waren Sie schon in der Kathedrale? Da schlafen sie in der Krypta.“

Die abschätzigen Bemerkungen der beiden Madrilenen gelten der zweitgrößten ausländischen Community, die in Spanien lebt: 900.000 Rumänen sind in den vergangenen 20 Jahren eingewandert, nur Marokkaner gibt es mehr im Land. Seit Mitte der 1990er Jahre ist Spanien eines der Hauptziele der osteuropäischen Abwanderung, die Schuld daran ist, dass Osteuropa in den kommenden Jahren bis zu 35 Millionen Einwohner verlieren wird.

Dabei ist Migration für die spanische Gesellschaft ein neues Phänomen: Infolge des Franco-Regimes gab es noch bis vor 30 Jahren auf der Iberischen Halbinsel wenig ethnische Diversität. Erst allmählich begann der Zuzug aus den ehemaligen Kolonien. Durch die profunde Wirtschafts- und Sozialkrise in Rumänien sollte der Zuzug aus dem Osten Anfang der 2000er förmlich explodieren. Zwischen 2002 und 2007 nahm das Land europaweit die meisten Migranten auf. 5,9 Mio. Ausländer lebten 2018 in Spanien, hinsichtlich des Ausländeranteils belegte Spanien damit den vierten Platz in Europa. Insbesondere jetzt, wo die zweite Generation erwachsen ist, profitiert das spanische Sozialsystem von den Kindern jener Rumänen, die vor 20 Jahren einwanderten. Denn sie sind jung, gut ausgebildet und mobil. 

In Zahlen

900.000 Rumänen leben in Spanien, weitere 1,2 Millionen in Italien. Lange Zeit galten die beiden Länder als Hauptziel der rumänischen Abwanderung nach Westeuropa. Alcalá de Henares im Osten Madrids gilt als rumänische „Hochburg“. Doch auch in Österreich wächst die Zahl: Derzeit leben hier rund 113.000. Noch 2019 werden sie die Deutschen, die bisher größte ausländische Gruppe in Österreich, voraussichtlich überholen.

„Ich war immer eine gute Studentin, aber heute denke ich, dass ich für das Studium zu viele Opfer gebracht habe“, sagt die 27-jährige Simona. Die gebürtige Rumänin kam vor 23 Jahren mit ihrer Familie nach Madrid. Nach einem Umzug nach Valencia und einem Studium in Alicante arbeitet sie heute als Export Area Manager wieder in Madrid. Sie profitierte von der Migration ihrer Eltern. Zu studieren wäre ihr in der Heimat nicht möglich gewesen. Was sie auch zu schätzen weiß: „Meine Eltern halfen mir, in einer anderen Stadt zu studieren, da konnte ich nicht Party machen, sonst hätte ich mich schlecht gefühlt. Ich kann auf einer Hand abzählen, wie oft ich im ersten Jahr auf Partys ging.“

Viele junge Rumänen in zweiter Generation studieren, sind mehrsprachig und international vernetzt. Sie nehmen nicht selten jene Position ein, die die abgewanderte junge Spanier während der Finanzkrise freimachten. Ihr ökonomisches Potenzial ist zur unerlässlichen Stütze des spanischen Sozialsystems geworden. „Osteuropäer sind generell die bestausgebildete Gruppe in Spanien,“ bestätigt Rafael Viruela Martínez von der Universitat Valencia. Obwohl man während der Krise mit einem „silent return“ rechnete, gingen nur die wenigsten Rumänen zurück in ihre Heimat. Wenn sie gingen, dann eher in ein anderes EU-Land. Die meisten aber sind gekommen, um zu bleiben.

Rumänische Stadt des Cervantes

An der Bushaltestelle Canillejas im Nordosten Madrids wartet an diesem heißen Juli-Nachmittag die Linie 223 auf dem glutheißen Asphalt. Ihre Destination: Alcalá de Henares, 35 km nordöstlich von Madrid. Ein junger Mann schläft an das Fenster gelehnt im hinteren Teil des Busses, auf der Brusttasche seines grauen Anzugs prangt das Namensschild eines jener Airporthotels, die der Bus an der Avenida de Aragón abklappert. So wie er pendeln die meisten der Fahrgäste täglich von Alcalá in die Flughafen-Peripherie Madrids, um dort an der Rezeption, als Putzpersonal oder Barkeeper zu arbeiten. 50.000 Rumänen leben in Alcalá, der „Stadt von Cervantes“, dessen vermeintliches Geburtshaus hier steht. Die Stadt gilt als „rumänische Hochburg“.

Dabei sind „rumänische“ Städte in Spanien rar. Das Gros der Community lebt über die ganze Iberische Halbinsel verstreut. In Valencia und am Ebro-Delta sind es rund 55.000 Rumänen. Im Großraum Madrid leben 220.000, das sind 25 Prozent. Ein typisch „rumänisches“ Viertel hat sich dennoch nicht herauskristallisiert. Restaurants oder Bars mit explizit rumänischer Klientel und Angebot gibt es selbst in der Hauptstadt nicht. „Rumänen wollen sich semantisch blass verhalten, das bedeutet, dass sie nicht auffallen wollen“, sagt Petrea Lindenbauer vom Institut für Romanistik der Universität Wien. „Sie assimilieren sich total und wollen nicht als Rumänen erkannt werden.” Madalina Diaconu, ebenfalls Lehrende am Institut für Romanistik, bestätigt: „Die rumänische Community gibt es nicht. Wenn, dann ist sie wie ein Archipel. Da gibt es Inseln, die hie und da miteinander kommunizieren.“

Das gilt auch für Wien. Denn Ziel der rumänischen Auswanderer ist immer öfter Österreich, für das Experten bis 2060 mit einem Bevölkerungszuwachs von bis zu 17 Prozent rechnen. Hier wächst die rumänische Community derzeit so schnell wie keine andere Gruppe. Mit rund 113.000 nahmen Rumänen 2018 den vierten Platz hinter Türken, Serben und den deutschen Spitzenreitern ein.

Das Haus von Cervantes in Alcalá de Henares, vermeintlich rumänische Hochburg im Nordosten Madrids.
Das Haus von Cervantes in Alcalá de Henares, vermeintlich rumänische Hochburg im Nordosten Madrids.(c) Julia Wenzel

Hält der Zuzug an wie in den vergangenen fünf Jahren, „haben wir im heurigen Sommer vermutlich erreicht, dass die Rumänen zur zweitgrößten Community in Österreich wurden”, sagt Lukas Vosicky, Generalsekretär der Österreichisch-Rumänischen Gesellschaft. Doch nur den wenigsten sei das bewusst. 

Schattenwirtschaft als Pull-Faktor

Während aktuell Österreich erst zu einem Zielland wird, galten Spanien und Italien (dort leben 1,2 Millionen Rumänen) lange als Hauptdestinationen für Auswanderer vom Balkan. Cornel Ban, Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Copenhagen Business School, nennt sie „die größte demographische Schockwelle in Süd- und Osteuropa seit dem Römischen Reich”.

Die Konzentration auf die beiden Länder wird meist mit der sprachlichen Verwandtschaft erklärt, greift jedoch zu kurz. Denn bei näherer Betrachtung der beiden Wirtschaftssysteme wird deren Ähnlichkeit schnell deutlich: Beide Staaten heuerten rumänische Migranten in Niedriglohnbranchen wie im Bausektor, in Hotels und in der Pflege an. Denn: Ein großer Teil der Wirtschaft ist in Spanien wie Italien „informell“ und von offiziellen Statistiken nicht erfasst, wie eine 2018 veröffentlichte Studie der Sprachwissenschaftler José Igor Prieto-Arranz und Mihai Iacob von der Universitat de les Illes Baleares zeigt.

»In den Nachrichten wird oft über Rumänen berichtet, die in Gangs rauben, einbrechen und in häusliche Gewalt involviert sind.«

Sprachwissenschaftler José Igor Prieto-Arranz

Diese Schattenwirtschaft lockt seit Jahrzehnten eine Vielzahl irregulärer Migranten an, um als saisonale Erntehelfer, Kellner oder am Bau zu arbeiten. Rumänische Arbeiter sind bei Unternehmer beliebt; sie gelten als tüchtig und gewissenhaft. Dass sich die rumänischen Communities nun auch im Rest von Europa schnell vergrößern, hänge mit einer gesetzlichen Änderung zusammen, sagt Vosicky: „Die Arbeitnehmerfreizügigkeit 2014 hat den Zuzug verstärkt. Das heißt aber nicht, dass mehr gekommen sind, sondern dass sich viele, die schon da waren, legalisiert haben.“

„Hackler“ am Bau oder kriminell

In den Tabernas Madrids stößt man, wie das Beispiel Leticias und Pacos zeigt, schnell auf stereotypische Zuschreibungen, wenn es um das Verhältnis der Einheimischen zu den Rumänen geht.

Das Instituto cultural rumano ist einer der wenigen Orte in Madrid, wo sich Rumänen als Gruppe identifizieren.
Das Instituto cultural rumano ist einer der wenigen Orte in Madrid, wo sich Rumänen als Gruppe identifizieren.(c) Julia Wenzel

Oft werden Rumänen von Spaniern als Roma und Sinti, folglich als gitanos („Zigeuner“), vorverurteilt. Die Ähnlichkeit der beiden Wörter für „Roma“ (romano) und „Rumäne“ (rumano) ist dafür ein Grund. Alltagsrassismus ist ein anderer. „Das hat damit zu tun, dass viele Bettler rumänische Staatsbürger sind, aber ethnisch Roma“, sagt Sprachwissenschaftler Prieto-Arranz. Generell ist das Image der Rumänen seit dem 19. Jahrhundert eher negativ. Dracula, die Unterstützung Hitlers im zweiten Weltkrieg oder das Ceauşescu-Regime trüben das Bild bis heute.

Zudem assoziieren viele Spanier die Rumänen mit der Unterwelt. Gran Vía und Calle Montera im Zentrum Madrids verwandeln sich in der Nacht zum inoffiziellen Straßenstrich und sind fest in rumänischer Hand; Bulgaren fungieren als Rausschmeißer. Die Welle an organisierter Kriminalität, die in den 1980ern ins Land kam, wird seither mit dem Balkan verknüpft. Wie groß das Problem mit Vorurteilen ist, zeigt die 2008 eigens für spanische und italienische TV-Sender lancierte Image-Kampagne der rumänischen Regierung „Hola, soy rumano” („Hallo, ich bin Rumäne“). Sie sollte mit lustigen TV-Spots Berührungsängste und Vorurteile abbauen. Mit eher mäßigem Erfolg. „Die meisten Spanier sagen, sie seien keine Rassisten“, sagt Prieto-Arranz. „Das kann man aber oft beobachten, wenn Rumänen eine Wohnung suchen. Eine Empfehlung eines Spaniers kann da viele Türen öffnen.“ Die Medien seien daran mitverantwortlich: „In den Nachrichten wird oft über Rumänen berichtet, die in Gangs rauben, einbrechen und in häusliche Gewalt involviert sind.“ Das zementiere das Bild des Kriminellen in den Köpfen ein. Die jungen, erfolgreichen Rumänen würden daran wenig ändern. 

Politisches Schweigen und Instabilität

Wie die spanische Politik zur rumänischen Migration steht, bleibt offen. Die Suche nach einer Antwort verläuft meist im Sand der staubigen La Mancha, da Behörden und Ministerien auf Interviewanfragen nicht reagieren. Prieto-Arranz überrascht das nicht: „Es herrscht weithin Einigkeit darüber, dass der schnelle Anstieg auch mit der bisher ineffizienten und inkohärenten Immigrationspolitik zusammenhängt.“ Zu rechte oder zu linke Politik begünstigte die Beschäftigung von illegalen Migranten, die später legalisiert wurden.

Während Deutschland, Österreich und Frankreich immer restriktivere Zuwanderungsgesetze verabschiedeten, führte die Offenheit Südeuropas zu einer geografischen Umorientierung der Migranten. Aktuell steht Premier Pedro Sánchez unmittelbar vor Neuwahlen im November. Politische Stabilität sieht anders aus. „Der politische Wille fehlt, das ist klar“, sagt auch Nicole Ndongala, Direktorin der Hilfsorganisationen Karibu. Sie kam selbst vor 21 Jahren aus der demokratischen Republik Kongo nach Spanien. „Keine Partei spricht über Migration, das kommt auf der Agenda nicht vor. Nur dann, wenn es ein Problem gibt.“ Die spanische Migrationsforschung stecke zu alledem erst in ihren Kinderschuhen, sagt Prieto-Arranz. Bisher sei man eher an Aus- denn an Einwanderung gewöhnt gewesen.

»Der politische Wille fehlt, das ist klar. Keine Partei spricht über Migration, das kommt auf der Agenda nicht vor. Nur dann, wenn es ein Problem gibt.«

Nicole Ndongola, Direktorin der Hilfsorganisation Karibu

Gut vernetzt gegen Vorurteile

Um negative Alltagserlebnisse zu vermeiden, ist die rumänische Community gut vernetzt. In einer der vielen Facebook-Gruppen tummelt sich auch der 24-jährige Nicolae. Als Masterstudent nach Madrid gekommen, ist der gebürtige Siebenbürger als Programmierer in der IT-Branche heiß begehrt. Bei 35 Grad und einem Häferl Schwarztee erzählt er in perfektem Deutsch von seinem Wunsch, im Ausland zu leben. „Meine Mutter hat in Deutschland gearbeitet, weil sie bei uns als Lehrerin nicht genug verdient. Meine drei Cousinen waren alle im Ausland. Nur eine ist bisher zurückgegangen.“

Nicolae charakterisiert wie auch Simona die jungen Rumänen im Land: Gut ausgebildet und mobil. Mit diesen Eigenschaften ausgestattet, verteilen sie sich über den gesamten Kontinent. Ihr Heimatland im Osten schrumpft indessen weiter. Nicolae sagt, ihm sei es leicht gefallen, zu gehen. So wie den meisten aus seiner Klasse in der deutschen Schule in Sibiu. „Viele sind nach Deutschland gegangen. Zumindest auf Erasmus.“ Auch er will im Ausland bleiben. „Es muss aber nicht unbedingt Spanien sein.“ Der Gedanke, in seine Heimat zurückzugehen, kommt ihm dennoch immer wieder. „Wenn ich zu meinen Cousinen aber sage, ich will vielleicht zurück, sagen sie: Bist du verrückt? Das wäre ja ein Rückschritt.“ 

eurotours 2019

Die Autorin war im Rahmen von „eurotours 2019“ in Spanien unterwegs. Das Projekt wird vom Bundeskanzleramt aus Bundesmitteln finanziert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2019)

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