Nachwahlbetrachtung

„Wurzelsuche“ und „Bewegungsdrang“

Die Parteien besinnen sich nun plötzlich ihrer Wurzeln oder suchen nach ihrer imaginären Identität.

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Nach einer Wahl ist Besinnung angesagt; früher nannte man das „Analysen“, über die dann in den „Gremien“ beraten wurde – meist dann, wenn man das Wahlziel verfehlt hatte. Heute glaubt man vielfach, die Phase der genauen Analyse getrost überspringen zu können. Diese gehört – noch am Wahlabend – den Hochrechnern, Wählerstrombeobachtern, Rückwärtswahrsagern („'s hat so kommen müssen; es war gleich zu wissen“?), psychologisierenden Politologen, politischen Dauerbeobachtern, Schnellsprechern und Politentertainern und öffentlichen „Umsonstratgebern“.

Die Schnellschlüsse, die aus dem Wahlergebnis gezogen werden, basieren oft weniger auf kritischer Beurteilung, sondern wollen zum Ausdruck bringen, dass man „nach vorn schaut“. Dabei kommt den Betroffenen paradoxerweise der Gedanke an ihre Wurzeln; an die Zeit, als die Ziele noch klarer und die „Richtung“ noch eindeutiger schienen. Das ist auch bei FPÖ-Repräsentanten aufgetaucht. Ein „Zurück zu den Wurzeln“ wäre dort aber gefährlich – noch dazu, da der von der seinerzeitigen Parteiführung versprochene „Historikerbericht“ noch nicht abgeschlossen ist. Womöglich findet man eine Wurzel (radix), die radikal anders ist als das freundliche Bild, das man von sich vermitteln möchte.

Der ÖVP – den Türkisen – wird (nicht nur, aber amüsanterweise auch) von bekennenden Agnostikern dringend empfohlen, sich auf ihre christlich-sozialen Wurzeln zu besinnen und „umzukehren!“. Früher hat man ihr vorgeworfen, klerikal zu sein und zu Fronleichnam unterm Baldachin mitzugehen. Verantwortungsethiker, ob gläubig oder nicht, müssen aber politisch handeln, „etsi deus non daretur“ („als ob es Gott nicht gäbe“, H. Grotius, 1583–1645). Im Wahlkampfwortschwall hat der grüne Spitzenkandidat der ÖVP sogar empfohlen, sich auf die Suche nach passenden Bibelzitaten zu machen („die andere Backe hinhalten“?, „wunderbare Brotvermehrung“?). Kogler selbst zeigte mit einer Kinderzeichnung so etwas wie die „Gründungsurkunde der Grünen“, bezeichnete die Kurz-Anhänger als Mitglieder einer Art Sekte und verhielt sich im Siegesrausch, als wäre er im Besitz der reinen Lehre, die ihm von einer Prophetin offenbart ward.

Nach dem Siegesrausch

Neben der „Wurzelsuche“ gibt es auch den „Bewegungsdrang“. Partei zu sein scheint „out“, Bewegung zu werden „in“. Macron hat es vorgemacht, Kurz war damit erfolgreich.

„Bewegung“ klingt dynamisch, verspricht Öffnung, Frische und Lust auf Neue(s). Historische (oft schlechte) Beispiele scheinen vergessen; vergessen auch die Erfahrung, dass man Strukturen und Institutionen braucht, um erfolgreich zu bestehen; dass man ein Programm haben muss, um sich selbst und anderen Orientierung zu geben. Es genügt eben nicht, sich „besser aufzustellen“– sei es auch als Bewegung, die womöglich vor allem mit dem Einsammeln von Interessenvereinen beschäftigt ist („Sammelbewegung“); oder mit der Suche nach einer imaginären Identität, die aus der Vergangenheit heraufgeholt werden soll. Nicht nur Parteihistoriker wissen, dass die Vergangenheit auch nicht mehr das ist, was sie einmal war. Es ist zu hoffen, dass die Menschen, die über ein Regierungsprogramm verhandeln, nicht ideologische Wurzeln schlagen oder um ihre „Identität“ bekümmert sind. Sie müssen mindestens so flexibel sein wie die offensichtlich mobile Wählerschaft. Für einen Teil derselben war die lange Wahlkampfzeit ein „Sommer des Missvergnügens“.

Also bitte! Bewegung! „Um etwas Neues zu sehen, muss man etwas Neues machen!“ (G. Ch. Lichtenberg)

Dr. Rudolf Bretschneider (* 1944 in Wien) ist Sozialforscher, Publizist undLehrbeauftragter an der Universität Wien.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.10.2019)

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