Überraschende Akzente

Estland: Ein Kussturm in der IT-Hochburg

Die Esten mögen lauschig-nostalgische Cafés.
Die Esten mögen lauschig-nostalgische Cafés.(c) Visit Estonia
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Das digitale Wunderland lässt auch große analoge Gefühle zu: Die Gartencafés, Museen und Nationalparks verzaubern, Gesangfestivals betören.

Wer 28 Jahre nach der Unabhängigkeit Estlands immer noch Ostblockmief über dem Finnischen Meerbusen erwartet, ist auf dem falschen Dampfer. Längst ist das dubiose Odeur wie weggeblasen.

Stattdessen erfrischt ein permanent-zünftiger „Wind of change" Tallinn, Europas Kulturhauptstadt von 2011: Die 400.000-Einwohner-Metropole wirkt stellenweise schicker und trendiger als so manche sich fortschrittlich wähnende westliche City. Hier spielt das Mittelalter – prächtige Gildehäuser, wuchtige Stadtmauern, romantische Plätze – mit innovativer Moderne gekonnt Doppelpass: Estland, Geburtsort von Skype, lässt die Parlamentswahl per e-Votum durchführen und die Bürger die Behördenwege flächendeckend digital erledigen. In Tallinn können registrierte Einwohner zudem nicht nur Zeit, sondern auch Geld sparen: Die Öffis, egal ob Bus, Straßenbahn oder Regionalzug stehen ihnen zum kostenlosen Herumgondeln zur Verfügung.

Aber nicht nur zu ebener Erd', sondern auch in luftiger Höh' setzt Tallinn überraschende Akzente. So soll es einst auch das höchste Gebäude der Welt beherbergt haben: die gotische St. Olaikirche brachte es zwischen 1549 und 1625 auf 159 Meter. Überragend und bei Basejumpern überaus beliebt bleibt auf jeden Fall der TV-Turm. Nicht nur die Segelbewerbe, sondern die gesamten Olympischen Spiele 1980 wurden vom 170 Meter hohen „Teletorn" in den Westen übertragen.

Die Esten mögen auch moderne Bauten wie das private Kunstmuseum von Viinistu.
Die Esten mögen auch moderne Bauten wie das private Kunstmuseum von Viinistu.(c) Visit Estonia

Zuckergoscherl und Eisbrecher

Medaillenverdächtig sind heute die versteckten Gartencafés. Leicht zu finden ist im Zentrum von Tallinns Altstadt das 1864 eröffnete Maiasmokk alias Zuckergoscherl: Eine kalorienschwangere Institution wie in Wien der Demel oder das Tomaselli in Salzburg. Noch deftiger fällt nur noch ein Ritteressen hinter den denkmalgeschützten Mauern des Themen-Restaurants Peppersack aus. Die Völlerei schreit förmlich nach einem Verdauungsspaziergang – auf zu den Glasbläsern, die ihre Kunst in den Hinterhöfen zelebrieren. Im Soti Park beim Hafen wird dann unerwartet Filmgeschichte lebendig: Eine Büste von Sean Connery, dem Ur-James-Bond, verströmt 007-Appeal.

Die Lizenz zur Überraschung haben auch die Museen des Landes – mit etwa 250 ist die Dichte beeindruckend. Zwei seien besonders empfohlen: das bis weit über die Landesgrenzen hinaus bekannte Kunstmuseum Kumu und das Meeresmuseum mit dem Suur Töll, dem dampfbetriebenen größten Eisbrecher der Welt, der die beiden Weltkriege überstanden hat, den historischen Wasserflugzeugen und U-Booten.

Der wahre Antrieb Estlands ist allerdings die Musik. Oper, Theater sowie bombastische Gesangs- und Tanzfestivals sind Standard – genauso wie mehrere Chöre pro Schule. 2001 trug sich Estland dank Tanel Padar und Dave Benton in die Siegerliste des Eurovisions Song Contest ein.

Ex-ABBA-Manager als Mäzen

Auch in der Provinz ist Musik allgegenwärtig. Das private Kunstmuseum von Viinistu gehört niemand geringerem als dem schwerreichen ehemaligen ABBA-Manager Jaan Manitski, der offenbar auch in der Politik ein Gefühl für die richtigen Töne entwickelte – der 77-Jährige war Estlands Außenminister und sogar Präsidentschaftskandidat. Und letztlich taugte die Musik auch zum politischen Statement der Massen Estlands: Friedliche, spontane Sängerfeste bis in die Nacht hinein, mit der Nationalflagge in den Händen und der ebenfalls noch verbotenen Nationalhymne auf den Lippen, provozierten eine unschlagbare Signalwirkung. 1991, als Konsequenz dieser „Singenden Revolution", war das Joch der Sowjetherrschaft Geschichte und Estland wieder frei.

Die Esten mögen möglichst unberührte Natur wie im Nationalpark Lahemaa.
Die Esten mögen möglichst unberührte Natur wie im Nationalpark Lahemaa.(c) Visit Estonia

Landlust im Nationalpark

Wer überprüfen will, ob die Loblieder auf die großen Weiten außerhalb Tallinns gerechtfertigt sind, macht eine Landpartie. In knapp einer Stunde ist der größte Nationalpark Estlands, Lahemaa, erreicht. Die Besucher erwarten endlose Wälder mit Heidel- und Preiselbeersträuchern, Treppelwege über Kanäle, an den Ufern von Seen und am nahen Meer Strände mit mächtigen Findlingen im Wasser.

Da im Sommer etwa 20.000 Menschen im Nationalpark leben, ducken sich Elche, Wölfe und Bären lieber weg, während die putzigen Küstenorte mit ihren urigen Holzhäusern wie Altja (25 Einwohner und ein Wirtshaus), Käsmu oder Palmse sehr wohl entdeckt werden wollen.

Den großzügigsten Auslauf gewährt den Besuchern der Vihula Manor Country Club: Das Viersterne-Superior-Anwesen erstreckt sich auf 50 Hektar. Das Upgrading des Gutshofs und Herrenhauses aus dem 16. Jahrhundert mit insgesamt 27 Gebäuden verschlang 15 Millionen Euro, zwei davon flossen aus EU-Fördermitteln. Ein elegantes Öko-Spa mit Sauna und Fitnessstudio hilft, falls das Wetter das Wandern oder Radeln zum Strand vermiest.

Romantiker und Frischvermählte zieht es magnetisch zur alten Windmühle oder zum hölzernen „Kussturm" ein paar Schritte hinter dem alten Herrenhaus, wo sich der Legende nach der Besitzersohn von Vihula Manor unsterblich in ein Dorfmädchen verliebt hatte. Weniger gefühlige Barflys können zumindest auf die Liebe anstoßen – mit einem selbst destillierten Wodka im hauseigenen Wodka-Museum.

Marzipanstube und Schlachtplatten-Dorado

Anreise: Mit Airbaltic (airbaltic.com) oder Nordica (nordica.ee) nonstop von Wien nach Tallinn

Hotels: In Tallinn: Telegraaf. Das charmant-historische Haus der Marriott-Gruppe („Autograph Collection") mit Jugendstil-Elementen und dem Gourmetrestaurant „Tchaikovsky" liegt ideal in der Altstadt (Vene 9,telegraafhotel.com). Im Nationalpark Lahemaa: Vihula Manor Country Club & Spa (vihulamanor.com)

Einkehrtipps für Tallinn: Das Traditionscafé „Maiasmokk" mit eigener Marzipanstube (Pikk 16), das Schlachtplatten-Dorado „Peppersack" (Viru 2, www.peppersack.ee), der Einheimischen-Liebling „Must Puudel" mit Power-Frühstück, veganen Gerichten und Retro-Flair (Müürivahe 20).

Allgemeine Infos:visitestonia.com, tourism.tallinn.ee

Compliance-Hinweis: Die Reise erfolgte auf Einladung von Visit Estonia.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2019)

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