Südtransdanubien

Ungarn: Weinherbst in der Schwäbischen Türkei

Kolonisten aus Deutschland siedelten sich nach der Türkenbefreiung im Südwesten Ungarns an. Ihre Kultur hat sich bis heute erhalten.

Wo zum Teufel liegt die Schwäbische Türkei? Auf einer offiziellen Karte ist dieses Land mit dem geheimnisvollen Klang nicht eingezeichnet. Es liegt im Südwesten Ungarns, in jenem Winkel, den die Drau im Süden und die Donau im Osten bilden und der im Nordwesten vom Plattensee zu einem Dreieck geschlossen wird.

Nachdem die Türken 150 Jahre über dieses Gebiet, dem sie bauliche Zeugnisse wie Moscheen, Festungen, Brunnen und Bäder hinterließen, geherrscht hatten, wurden im sogenannten Großen Türkenkrieg (1683–1699) weite Landstriche verwüstet und entvölkert. Die Türken wichen Schritt für Schritt aus Ungarn, weite Ländereien fielen den siegreichen Habsburgern in die Hände, die die herrenlosen Güter an Magnaten verkauften oder an verdiente Feldherren und die Kirche verteilten.

Mit allerhand Privilegien, zum Beispiel der Zuteilung von Grund und Boden, wurden auswanderungswillige Kolonisten angelockt, neben Slawen, Main- und Ostfranken, Pfälzern, Hessen und Baiern auch zahlreiche Schwaben. Während der türkischen Besetzung als „Törökország", also Türkei, bezeichnet, wurde das Gebiet rund um Pécs, Deutsch Fünfkirchen, das heute mit einer Fläche von etwa 15.000 Quadratkilometern die Komitate Tolna (Tolnau), Baranya (Branau) und Somogy (Schomodei) umfasst, Schwäbische Türkei genannt.

Im Weinherbst in der Schwäbischen Türkei zieht es die Bevölkerung in die Kellergassen, etwa in Palkonya (Deutsch: Palkan) in den Weinkeller Fritsch.
Im Weinherbst in der Schwäbischen Türkei zieht es die Bevölkerung in die Kellergassen, etwa in Palkonya (Deutsch: Palkan) in den Weinkeller Fritsch.(c) Georg Heilingsetzer

Dreisprachige Ortstafeln

Dies ist noch immer so, denn die Schwäbische Türkei ist die größte deutsche Sprachinsel im heutigen Ungarn. Die deutsche Kultur wurde hier trotz der schweren Brüche des 20. Jahrhunderts in vielen Dörfern und Städtchen weitgehend erhalten.

Zwei-, mitunter sogar dreisprachige Ortstafeln künden von der Vielfalt an Ethnien, die seit Jahrhunderten in Südtransdanubien, wie die Region auch genannt wird, miteinander in Dörfern und Kleinstädten zusammenleben. Aus diesem ländlichen Siedlungsgebiet ragt Pécs heraus, das seit den Römern als administratives, wirtschaftliches, kulturelles und sakrales Zentrum der Region fungiert. Die Studentenstadt mit ihren knapp 150.000 Einwohnern mit sehr viel Atmosphäre und architektonischen Juwelen aus allen Epochen der Baukunst ist auch für das Kulturleben der Ungarndeutschen bedeutsam.

Am Jókai tér, an dem das vegane Lokal Lyr, das italienische Restaurant All' elefante oder die schummrige Weinbar Eleven zur Einkehr laden, treffen sich die Studenten, die aus rund 65 verschiedenen Ländern stammen sollen. Unter ihnen auch zahlreiche Deutsche, die aus der Not unzureichender Abiturnoten eine Tugend gemacht haben. An Wochenenden mutieren die Studiosi zu Stadtführern, die Verwandten und Freunden ihre Lieblingsplätze und die Sehenswürdigkeiten der einst multikulturell geprägten Stadt zeigen.

Kreuz neben Halbmond

Einige von ihnen gruppieren sich etwa am großen Széchenyi tér, den im Norden eine Reiterstatue und die Pfarrkirche St. Maria zieren, ehemals eine imposante Moschee des Pascha Gazi Kasim, in der noch einige arabische Inschriften und Mihrabs (Gebetsnischen) zu bewundern sind. Das fast synkretistisch anmutende Gotteshaus trägt auf seiner grünen Kuppel sowohl Kreuz als auch den Halbmond. Gleich neben dem neobarocken, eklektischen Rathaus zweigt die Király ut ab, ein Korso mit vielen Cafés, Restaurants, Hotels und dem schmucken Nationaltheater, der es im Lauf der Zeit auf 21 verschiedene Namen brachte.

Auch die Franziskanerkirche, die heute eine barocke Gestalt hat, wurde in der Türkenzeit zu einer Dschami (Freitagsmoschee) umgebaut. Pascha Memi ließ daneben ein Minarett, eine Medrese (geistliche Schule) und ein Hamam (Dampfbad) errichten, das großteils erhalten geblieben ist.

(c) Georg Heilingsetzer

Frühchristliche Grabkammern

Während man von einem der vier Türme der Kathedrale St. Peter und Paul, die auf dem höchsten Punkt der Altstadt steht, eine schöne Aussicht über Pécs und dessen Umland genießen kann, wirft man unweit vom Dom einen Blick unter die Erde: Der frühchristliche Friedhof, dessen Grabkammern pittoreske Wandmalereien mit testamentarischen Motiven aus dem 4. Jahrhundert zieren, zählt zu Recht zum Weltkulturerbe der Unesco.

Ein Rundgang durch Pécs könnte auch noch an den Resten der Stadtmauer mit der mächtigen Rundbastei vorbei zur gut erhaltenen Synagoge führen oder zur Moschee des Pascha Jakowali Hassan, dem vielleicht schönsten Zeugnis aus der osmanischen Zeit in der Stadt. Robert ist einer dieser studierenden Stadtführer. Der Medizinstudent teilt sich seine Wohnung mitten im Zentrum seit vier Jahren mit seiner Kommilitonin Marie. „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in Ungarn lande", wundert sich der junge Mann selbst über den Lauf der Dinge. „Aber ich wurde hier positiv überrascht, es fehlt uns an nichts, und man kann es sich hier leisten, öfter essen und trinken zu gehen", ergänzt er. Ungarisch brauche man nicht, mit Englisch und Deutsch komme man durch. Dennoch würden die beiden Ungarisch lernen, um etwa für die Praxis mit den Patienten gerüstet zu sein. „Ein bisschen Medizinungarisch kann nicht schaden", sagt Robert. „Aber viele Patienten haben deutsche Wurzeln oder beherrschen ein wenig Deutsch", relativiert Marie. Bereut hätten sie ihr Wagnis nicht, sind sich die beiden Medizinstudenten einig. Am Wochenende genieße man die Weinorte der Umgebung. Die Kleinstadt Villány (Deutsch: Wieland) südöstlich von Pécs ist bekannt für ihre hervorragenden Rotweine, was ihr die Bezeichnung Bordeaux des Ostens eingebracht hat. Jeder fünfte der rund 2500 Einwohner soll ein Winzer sein. Nach dem Ort wurden auch das Villány-Gebirge sowie die Region benannt, die auf sieben Hügeln Weinbau kultiviert.

Entenleber und Welsgulasch

Abends sind die Weinkeller, ungarisch Pince, und ihre Gastgärten in der Kellergasse gut besucht, erstaunlicherweise begegnet man ausländischen Touristen indessen selten. Bei Zsolt Maul, Tamás Günzer oder in der Vinatus Pince kann man zu Schmankerln wie hausgemachter Griebepaste, kalter Entenleber, Welsgulasch oder knuspriger Schweinshaxe selbst gekelterten Wein genießen, ehe man sich noch einen Topfenstrudel gönnt. Dort und da erklingen Roma-Musik und ungarische Weisen, Frauen tanzen in kleinen Trippelschritten zu den Klängen von Ziehharmonika, Tamburizza, Gitarre, Kontrabass und Gesang.

Csaba Ottó, der als Generaldirektor eines Papierhandelsunternehmens zu einem kleinen Vermögen gekommen ist, hat sich einen Kindheitstraum erfüllt und Weinberge gekauft. Er spricht gut Deutsch, dazu auch etwas Schwäbisch. Seine Großeltern seien Donauschwaben gewesen, seine Urgroßmutter habe nur Schwäbisch und kein Deutsch gesprochen. „Ich habe die Sprache durchs Hören gelernt, meine Schwester, die bei den Großeltern aufwuchs, spricht perfekt Deutsch", erklärt er. Csaba Ottó keltert vor allem Rotweine, aber auch Weißweine. „Das Weinmachen ist nun mehr als ein Hobby, es ist ein Beruf." Sein Weingarten von 1,2 Hektar werfe mit seinen 6000 Weinstöcken rund acht Hektoliter Wein ab. Er selbst sei durch das Weintrinken zum Weinmachen gekommen. Früher habe er mit den Freunden seiner Basketballmannschaft drei bis vier Liter Wein getrunken, pro Person. Das gehe heute nicht mehr.

Die Universitätsstadt Pécs.
Die Universitätsstadt Pécs.(c) Georg Heilingsetzer

Wenige Kilometer von Villány entfernt findet man im Villányer Weingebiet das idyllisch gelegene Dorf Villánykövesd (Deutsch: Gowisch). Die Kellergassen sind in zwei Etagen angeordnet, oben im zweiten Stock füllt Béla Neumann gerade mit seinem Schwiegersohn den Wein in Flaschen. Unter den Älteren werde noch Schwäbisch gesprochen, sagt der 72-jährige Neumann in schwer verständlichem Deutsch, der ein Glas Rizling bringt. Die Jugend hingegen wachse mit der deutschen Hochsprache auf, vom Kindergarten über die Grundschule bis zur Hochschule könne man Deutsch lernen. Viele Leute würden hier aufgrund ihrer Wurzeln Deutsch verstehen und sprechen, im Alltag freilich eher die Generation der Alten.

Während von allen Weinkellerbesitzern Wein erzeugt werde, würden nur acht Weinkeller als Gaststätten bewirtschaftet. Gäste kommen vor allem im Herbst: „Im Sommer gehen die Leute baden", sagt Neumann lächelnd. Von Villánykövesd gelangt man nach kurzer Fahrt nach Palkonya (Deutsch: Palkan), dessen Kellergassen mit hübschen weiß getünchten Häusern ebenfalls in Etagen angelegt sind. Die deutschsprachige Gemeinde des Orts verfügte schon in den 1780er-Jahren über ein eigenes Schulgebäude. Eine klassizistische Rundkirche, die 1816 von der Familie Batthyány erreichtet wurde, prägt das Dorfbild.

Wer sich nicht nur kulinarische Freuden, sondern auch ein bisschen Bewegung gönnen will, der könnte mit einem Leihfahrrad auf der Weinstraße von Villány in Richtung Süden fahren, um sich in einem der Thermalbäder zu erholen. Sowohl das Heilbad von Harkány am Fuß des Villány-Gebirges, dessen schwefelhaltiges Wasser sich für die Behandlung von Gelenkserkrankungen eignet, als auch jenes von Siklós am Ende der Weinstraße haben eine lange Tradition. In unmittelbarer Nachbarschaft zur imposanten Burg neben einer prachtvollen Moschee bietet das vor wenigen Jahren modernisierte Heilbad mit ansprechender Innenarchitektur und einladenden Außenbecken neben Entspannung auch Erlebnisbecken mit Rutschen für Kinder.

Hübsche Dörfer

Nördlich von Pécs überragt das Mecsekgebirge, eine 45 Kilometer lange Bergkette, die rurale Landschaft, die aus sanften Hügeln, fruchtbaren Tälern und in nord-südlicher Richtung verlaufenden Furchen, in denen sich Bäche und Flüsse ihren Weg bahnen, gebildet wird, mit mehreren Gipfeln, von denen sich der höchste, der Zengö, bis zu einer Höhe von gigantischen 682 Metern aufschwingt. Am Fuß dieser Anhöhen liegen einige hübsche Dörfer wie Mecseknádasd (Nadasch), ?bánya (Deutsch: Altglashütte) oder ?falu (Deutsch: Ofala), wo die Uhren noch etwas langsamer als in den Weinorten zu gehen scheinen.

Der hochbetagte Steinmetz Adam Arnold in Nadasch frohlockt mit einem verschmitzten Lächeln: „In einer Reportage im deutschen Fernsehen haben sie der Schwäbischen Türkei schon vor 35 Jahren den Untergang prophezeit, doch in Wirklichkeit gibt es sie noch immer." Auch wenn dieses Gebiet auf keiner Landkarte zu finden ist, kann man sich davon im Südwesten Ungarns selbst überzeugen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2019)

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