Kolumne zum Tag

Grazer Fenstersturz

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Manche Erinnerungen hat man so weit hinten im Gehirn verräumt, dass sie einem mehrere Jahrzehnte nicht mehr in den Sinn kommen.

Manche Erinnerungen hat man so weit hinten im Gehirn verräumt, dass sie einem mehrere Jahrzehnte nicht mehr in den Sinn kommen. Aber dann kommt das Kind von der Schule nach Hause und erzählt begeistert vom Turnunterricht, und alles ist über die Sekunde wieder da. Die Angst, die Panik, der Horror.

Es geht ums Turnen an den Ringen. Zuerst, als das Kind erzählt, wie viel Spaß das Schwingen an den Ringen gemacht hat, bin ich noch in einer aufgeräumten Verfassung. Dann aber beschreibt das Kind begeistert, wie es sich mit den Beinen in die Ringe gesetzt hat und mithilfe der Lehrerin nach vorn gekippt ist. Und da war alles wieder da. Der Moment, in dem man in den Ringen sitzt, mit den Armen irgendwie durch die Seile greifen, sich todesmutig nach vorn fallen lassen und darauf vertrauen muss, dass die Kniekehlen in den Ringen picken bleiben und man nicht auf diese steinharten blauen Turnmatten stürzt.

„Der Fenstersturz!“ rufe ich in Panik. So hieß das damals in meiner AHS in Graz. Ein äußerst fragwürdiger Name, wenn Sie mich fragen. Interessant, wie man manche Dinge fürchtet, andere nicht. Der Kopfüberschlag zum Beispiel hat mir nichts ausgemacht, der Felgaufschwung am Reck war für mich eine Qual (die Lehrerin erinnert sich garantiert noch an mich), aber nichts war so schlimm wie der Fenstersturz, der heute wahrscheinlich aus pädagogischen Gründen gar nicht mehr so heißt. Im Internet habe ich dazu wenig gefunden, dafür andere Übungen, die auf so bedenkliche Namen wie „Auskugeln“ (Auskugeln!) oder Sturzhang (Sturzhang!) hören. In meiner Erinnerung haben wir in der Unterstufe überhaupt nur Geräte geturnt, nur ab und zu aufgelockert von Völkerball und Mordball. Jawohl, Mordball! Was genau man dabei machen musste, außer das andere Team mit dem Ball abzuschießen, weiß ich nicht mehr. Aber es hat wahnsinnig viel Spaß gemacht. Gut, die zwei gebrochenen Finger waren ein bisschen unpraktisch. Einerseits. Andererseits war man dann wochenlang vom Turnen befreit. Aus der Ferne war der Fenstersturz nämlich nicht ganz so schlimm.

E-Mails an: mirjam.marits@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2019)

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