Ich like, also bin ich? Die Abgründe der Netzwelt

Einfach abschalten?
Einfach abschalten?(c) Jurgen Ziewe/DPA Picture Alliance/Picturedesk
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Alle irgendwo hinterlassenen Daten sind immer auch potenzielle Schuldeingeständnisse. Dass sich die Gesellschaft im Datengefängnis befindet, ist also kaum übertrieben. Echokammern, Bewertungswahn, digitale Paralleljustiz: Bücher über die Fallen der Digitalisierung.

Die Digitalisierung schlägt jeden mit Betriebsblindheit, der nicht mehr in der Lage ist, den Blick von ihr wegzuwenden. Was sie in wenigen Jahrzehnten aus der Öffentlichkeit gemacht hat, erschließt sich erst, wenn man in Betracht zieht, was Öffentlichkeit in den vielen Jahrtausenden davor war. Als öffentliche Angelegenheit galt zunächst alles, was das Wohl und Wehe des Gemeinwesens betraf. Wollen wir Krieg oder Frieden mit den Nachbarstämmen? Hierbleiben oder weiterziehen?

Wenn solche Fragen in der Steinzeit anstanden, versammelte sich der ganze Stamm am Kultplatz, opferte seinen Göttern und erhoffte sich von ihnen Tipps zur Entscheidungsfindung. Irgendwann freilich wurden die Gemeinwesen zu groß, als dass das, was alle anging, noch durch die Versammlung aller regelbar gewesen wäre. Zur Verhandlung der öffentlichen Angelegenheiten kamen nur noch Herrschende, Privilegierte, Auserwählte zusammen. Vergleichsweise wenige befanden darüber, was alle betraf. Diese wenigen sind ein bleibendes Ärgernis, zumal im Konzept der demokratischen Öffentlichkeit. Sofern sie gewählte Volksvertreter sind, haben sie immerhin ein politisches Mandat. Aber längst ist die politische Öffentlichkeit von einer massenmedialen überlagert worden. Und welches Mandat haben die Betreiber von Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsendern, die Redakteure und Lektoren, die alle Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen? Sie haben Unternehmen gegründet oder sind eingestellt worden, aber nicht demokratisch gewählt.

Das Internet schien das ganze Mandatsproblem mit einem Schlag zu lösen. Wer über einen Computer verfügt, kann mit ein paar Klicks ganze Datensätze „ins Netz stellen“ und sich direkt öffentlich artikulieren – vorbei an allen Volksvertretungen, Regierungen, Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen; vorbei an allen Repräsentanten und Vormündern, die sich für entscheidungsbefugt darüber halten, ob das, was öffentlich artikuliert wird, auch öffentlichkeitswürdig ist. Erst die ungefilterte Öffentlichkeit bringt direkte Demokratie; hier erst wird Freiheit konkret, jauchzten die Internetpioniere, legten wie besessen Glasfaserkabel und knüpften Algorithmen zwischen allem, was sich verlinken lässt. Das vermeintliche neue Reich der Freiheit war freilich schon Mitte der 1990er-Jahre ein Dschungel, gegen dessen Wuchern nur noch eines half: Suchmaschinen. Weil sie Retter in der Not waren, sah man ihnen nicht sogleich an, in welch schwindelerregendem Maße sie sich zu neuen Vormündern aufbauen würden.

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