Ex-Kanzler Franz Vranitzky im Gespräch mit der "Presse": „Es gehört zum Politikerdasein dazu, den Kummer nicht zu zeigen.“
„Die Presse“: Sie waren fast zwölf Jahre Kanzler, sind dann aber plötzlich, nur ein Jahr nach Ihrer Wiederwahl, zurückgetreten. Können Sie den Schritt des deutschen Bundespräsidenten nachvollziehen?
Franz Vranitzky: Mein Rücktritt hatte andere Ursachen. Ich hielt die Zeit für gekommen, die Verantwortung in jüngere Hände zu legen. Mein Kalkül war, dass der Nachfolger eine halbe Legislaturperiode Zeit haben sollte, sich für die nächste Wahl zu positionieren.
Die Nase hatten Sie nicht voll?
Vranitzky: Eigentlich nicht. Aber in so einer exponierten Position ist man unter Dauerdruck – und der spart nichts aus. Man muss in allen Bereichen damit rechnen, dass irgendetwas dahergeflogen kommt: Sei's in der Politik, im Privatleben oder einen Sager betreffend, der jemandem nicht gefällt oder der einfach missglückt ist. Mit Verunglimpfungen und Beschimpfungen muss man umzugehen lernen. Ich habe versucht, dort, wo es notwendig war, zurückzuschlagen, und dort, wo es nicht nötig war, die Sache zu ignorieren.
Man braucht für die Politik eine dickere Haut als für einen Wirtschaftsjob?
Vranitzky: Ja sicher. Wenn ich an die Schimpftiraden von Jörg Haider, Walter Meischberger oder Ewald Stadler (damals alle FPÖ) im Parlament denke, dann ist die Wortgewalt mancher Leute auch Folge einer inneren Schwäche.
Sind Politiker oft mehr verletzt, als es nach außen hin scheint?
Vranitzky: Sicher. Aber es gehört auch zum Politikerdasein dazu, den Kummer nicht zu zeigen.
Offenbar ist es für Politiker besonders wichtig, ein enges Vertrautennetz zur Rückenstärkung zu haben.
Vranitzky: Das ist unverzichtbar. Wenn es Politikern nicht gelingt, ein starkes und vertrauensvolles Team um sich zu scharen, dann haben sie es viel schwerer.
Hat Österreich zu wenig Rücktrittskultur? Sind wir eine Republik der Sesselkleber?
Vranitzky: Das ist jeweils von Fall zu Fall zu beurteilen. Es sollte ja auch nicht derjenige als der beste Politiker gelten, der am schönsten zurücktritt. Das kann aber eine große Erleichterung sein, wenn dem Betroffenen alles zu viel geworden ist.
Gab es auch in Ihrer Kanzlerschaft Zeiten, in denen Sie am liebsten alles hingeschmissen hätten?
Vranitzky: In dieser Form nicht.
Oder man gibt es nicht zu?
Vranitzky: Wir haben den Wahlkampf 1994 schlecht geführt und nicht gut abgeschnitten. Ich habe mir nachher Videos von den Fernsehkonfrontationen angesehen und fand mich erstaunlich daneben. Da habe ich die Freunde um mich geschart und meinen Rücktritt angeboten. Sie haben mich aber überredet zu bleiben.
Hätten manche österreichischen Politiker nach Ihnen nicht doch besser zurücktreten müssen?
Vranitzky: Wir haben doch eh prominente Beispiele: den Viktor Klima 2000 und 1986 Fred Sinowatz. Beides war verständlich.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2010)