Louise Bourgeois: Abschied von der Mutterspinne

(c) AP (Dimitris Yeros)
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Die Grande Dame der Gegenwartskunst starb am Montag mit 98 Jahren in New York. Mit ihr verliert die Kunstwelt eine feministische Pionierin von unerreichter Intensität und Ausstrahlung.

Sonntags um drei Uhr. Da hielt Louise Bourgeois in ihrem Backsteinhaus in Chelsea Hof. Über 30 Jahre lang empfing sie junge Künstler und Künstlerinnen zum Likör, ließ sich ihre Arbeiten zeigen, gab Kommentare ab, manchmal ungehalten, manchmal besänftigend, immer ernsthaft interessiert. Sie war die Mutter mit dem spitzbübischen Lächeln, der man automatisch Ehrfurcht entgegenbrachte, deren Person das heimatliche Gefühl einer ganzen Kunstwelt verkörperte. Wie die riesigen schwarzen Spinnenskulpturen aus Metall, die Bourgeois in ihren Ausstellungen, vor Museen in London, New York, Paris aufstellen ließ. An ihre Beine konnte man sich klammern, unter ihre Körper, in ihre Fänge sich flüchten. Sie sind die weiblichen Gegenstücke zu Alberto Giacomettis existenziellen Schreitenden. Sie sind „Mamans“, Wächterinnen und Weberinnen, wie Bourgeois' eigene Mutter es war.

Leben und Werk sind schwer zu trennen bei dieser großen Künstlerin, die am Montag im Alter von 98 in New York einen Herzinfarkt erlitt. 98 Jahre. Was für ein Alter. Was für eine Biografie. Was für ein Werk!

Am 25. Dezember 1911 in Paris geboren, fand sie sich als dritte Tochter mehr gelitten als freudig erwartet wieder: Der machistische Vater war Kunsthändler und Sammler, die Mutter leitete einen Betrieb für historische Textilien, in dem Gobelins und Tapisserien restauriert wurden. Es war die erste bildnerische Herausforderung des Mädchens Louise, Skizzen für das Ergänzen von Teppichmustern zu zeichnen. Es war die erste skulpturale Herausforderung des Mädchens Louise, während der Verhöhnungen durch den lauten Vater unter dem Esstisch aus Brot kleine Voodoo-Figuren von ihm zu kneten. Um sie dann zu verstümmeln. So die Legende.

Drei Söhne für die Feministin

Dann geschah alles gegen den Willen des Familientyrannen, der seine Frau über Jahre im eigenen Haus mit dem englischen Kindermädchen betrog: Bourgeois brach das Mathematikstudium ab und studierte Kunst in Paris, bei Fernand Léger, hatte Kontakt mit den Surrealisten. Sie entschloss sich zu einem monogamen Leben, heiratete 1938 den amerikanischen Kunsthistoriker Robert Goldwater, Spezialist für afrikanische Kunst, mit dem sie nach New York ging, wo sie drei Söhne gebar.

Drei Söhne für eine Feministin, was sonst. Das andere aus sich selbst heraus gebären, diese Verbindung der Geschlechter, zieht sich durch Bourgeois' Werk – von unglaublich sanften, marmornen Phalli-Wolken bis zum scheinbar brutalen „Fillette“, einem Riesenpenis aus Latex, den sie sich mit 71 für ein berühmtes Porträt des Fotografen Robert Mapplethorpe wie ein Baby unter den Arm klemmt. Bourgeois trägt dabei einen Affenfellmantel. Und lächelt unheimlich belustigt. „Sie sehen darin einen Penis? Ich nicht. Fillette bedeutet auf Französisch kleines Mädchen.“ Tatsächlich ist es beides: ein Phallus, dessen Testikel aber auch zwei Brüste sein könnten. Oder die Beinansätze eines weiblichen Torsos.

Erst einmal war Bourgeois aber zeichnende Hausfrau. Die „femme maison“ stellte sie als nackten Frauenkörper dar, dem ein Haus über den Kopf gestülpt wurde – Schutz und Gefängnis gleichermaßen. Zeit für ihre Arbeit hatte sie nachts, dabei blickte sie über die Dächer New Yorks. Wo sie auch das billige Holz entdeckte, aus dem die Wassertanks gezimmert wurden – und aus dem sie ihre ersten Figuren schnitzte. Schlanke Wesen, die sie wie zur Familienaufstellung gruppierte.

Die Psychoanalyse, die Bourgeois damals im freudianischen New York machte, ist in ihrem Werk nicht zu leugnen, auch wenn die Form bei ihr immer auch ohne biografische Füllung funktioniert. Trotzdem. „Der schöpferische Impuls für alle meine Arbeiten ist in meiner Kindheit zu suchen“, sagte sie selbst. Dementsprechend explizit liest sich „The destruction of the father“, ein kannibalistisches Familienmahl, getaucht in rotes Licht von 1974 – Bourgeois' erste Installation und eine der ersten Installationen, die eine Künstlerin überhaupt schuf.

Feministische Pionierin im Umgang mit Materialien und Genres, unerreicht in der künstlerischen Ausdruckskraft, der Energie und thematischen Konsequenz wurde Bourgeois – ähnlich der österreichischen Malerin Maria Lassnig – dennoch erst spät „entdeckt“. 1982, als das Museum of Modern Art ihr die erste Retrospektive widmete (die erste einer Künstlerin überhaupt in diesem Haus) war sie bereits in ihren 70ern. Ab Ende der 80er-Jahre wurde sie auch in Europa bekannter, nahm bei „documentae“ teil, gewann den Goldenen Löwen der Biennale Venedig, den weltweit höchstdotierten Kunstpreis, den japanischen „Praemium Imperiale“. Heute gilt sie als teuerste Künstlerin der Gegenwart.

In Österreich schlecht vertreten

Bezüge zu Österreich gibt es kaum – nicht nur, dass kein Museum eines ihrer Werke in einer Dauerausstellung präsentiert, es existieren auch kaum welche in den Sammlungen! Neben einigen Ehrungen war Bourgeois allein durch Ausstellungen der Wiener Kunsthalle präsent, wird es auch nächstes Jahr wieder sein (Termin noch unbekannt). Und mit dem österreichischen Designer Helmut Lang verband sie eine besondere Freundschaft zwischen zwei „Runaways“, durch die einige Kooperationen entstanden.

Zur fulminanten Retrospektive anlässlich ihres 95. Geburtstags musste man 2007 aber in die Tate Modern nach London pilgern: unglaublich eindrucksvoll ihre „Cells“ der 80er-Jahre, übermannsgroße Käfige der Erinnerungen, ausgestattet mit symbolischen Möbelstücken, Tapisserien, Geschlechtsteilen, Figuren – alles Hinweise auf ihre Kindheit und auf ihre sie immer unter Erwartungsdruck setzenden Rollen als Tochter, Mutter, Ehefrau. Hier ist das Netz dieser Weberin aus Vergangenheit und Gegenwart dicht gezogen, hier findet alles, Grauen und Glück, seinen fragwürdigen Platz unter dem Schutz der Spinnenmutter.

BOURGEOIS IN ÖSTERREICH

Das Wiener Mumok besitzt eine frühe Bronze von Bourgeois, die nur sporadisch zu sehen ist. Die Albertina drei Druckgrafiken, eine Zeichnung, eine Plakatmappe (nicht ausgestellt). Das Essl Museum eine Bronze von 2002 („Spider Home“). Die Kunsthalle Wien plant 2011 einen Surrealismus-Schwerpunkt u. a. mit Werken von Bourgeois.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2010)

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