Plattenkritik

Oper: Ein Gluck für unsere Tage

Hier paaren sich tänzerische und stimmliche Ausdruckskraft: Dmitry Korchak und Andriana Chuchman als Orpheus und Eurydice.
Hier paaren sich tänzerische und stimmliche Ausdruckskraft: Dmitry Korchak und Andriana Chuchman als Orpheus und Eurydice.(c) C Major Entertainment
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John Neumeier interpretiert auf einer neuen DVD Glucks „Orpheus“ tänzerisch – in der mit Ballett angereicherten Pariser Fassung: feines, spannendes Musiktheater.

Auch wer nicht gerade ein Freund der sogenannten aktualisierten Werkdeutungen ist, wird zugeben müssen, dass ein Mann wie John Neumeier in der Regel mit Geschmack an die Aufgabe herangeht, altbekannte Stücke mit zeitgenössischen Akzenten zu versetzen, sie gar „in die Gegenwart zu holen“, wie ein Lieblingswort der Rezensenten lautet.

Nun hat der Ballettmann Neumeier in Christoph Willibald Glucks „Orpheus“-Oper, mit der die klassische Opernreform einst in Wien eingeläutet wurde, ein willkommenes Vehikel gefunden, seine Kunst zu üben. Dass dieser Künstler die Sache von dem tänzerischen Aspekt aus betrachten würde, verstand sich schon vor Beginn der 2018 in den USA erstmals gezeigten Koproduktion, die vor kurzem in Neumeiers künstlerische Heimatstadt Hamburg übersiedelte. Daher liegt der Aufführung, die hier als Aufzeichnung aus der Lyric Opera Chicago auf DVD dokumentiert vorliegt, nicht die ursprüngliche Version von Glucks Partitur zugrunde, sondern die Pariser Fassung, die, dem Brauch im Schlosstheater von Versailles folgend, mit etlichen Ballettnummern angereichert ist.

Von diesen ausgehend, begreift Neumeier seine Inszenierung als Hommage an die spätbarocke Form der Tragédie lyrique, deren Grenzen Gluck ebenso sprengte, wie er zuvor in Wien den Formenkanon der Opera seria über den Haufen geworfen hatte. Nur dass seine Idee vom modernen Musiktheater den französischen Gebräuchen näher stand, in denen sich Gesang, Tanz und Orchesterklang zu einem großen theatralischen Ganzen vermengten.

Der Schock für die Entourage Ludwigs XVI. dürfte anno 1774 also nicht groß gewesen sein, wenn sich auch ästhetische Querelen anzubahnen begannen. Wie auch immer: Glucks Werk hat dank der Ausdruckskraft seiner Musik überlebt – und wir erleben hier einen der raren Versuche einer zeitgemäßen Sicht auf das Stück, geboren aus den stilistischen Vorgaben des Originals.

Neumeier erzählt also die Geschichte vom mythischen Sänger und seiner Geliebten, die er aus dem Hades befreit, recht getreulich, wie sie der Librettotext vorgibt, bindet sie aber in einen Rahmen: Orpheus ist offenbar Ballettmeister und probiert sein neuestes, von Arnold Böcklins Gemälde „Die Toteninsel“ inspiriertes Stück. Die Primaballerina, Eurydike, kommt zu spät, hat Streit mit ihrem Maître und rast kurz danach mit ihrem Kleinwagen in einen Baum.

Christoph Willibald Gluck: „Orpheé & Euridice“
Christoph Willibald Gluck: „Orpheé & Euridice“(c) C Major Entertainment

Die Toteninsel wird in Neumeiers poetisch-monochromen Dekors also zum Schauplatz alles Folgenden – tänzerische Ausdruckskraft paart sich mit der stimmlichen Dmitry Korchaks (technisch makellos auch in den heiklen Mixturen im höchsten Register) und Andriana Chuchmans. Harry Bicket, originalklangversiert, dirigiert; ein wenig mehr musikalische Renitenz täte vor allem den Furien gut, doch bindet sich alles zusammen zum feinen, durchwegs spannenden Musiktheatererlebnis. Ein Gluck für unsere Tage, und das ganz ohne szenischen Holzhammer, selbst Handy und sonstige aktuelle Gegenstände stören die Optik nicht.

Und weil die Kraft von Orpheus' Gesang hier nicht nur akustisch, sondern vor allem in den tänzerischen Bewegungsfolgen fühlbar wird, kann zuletzt wirklich jede Note von Glucks Pariser Partitur musiziert werden, ohne dass das große Gähnen eintritt. Neumeier nutzt nach dem von Amor, Lauren Snouffer, herbeigeführten Happy End die verbliebenen Nummern der Ballettmusik und rundet somit die Verbeugung vor der französischen Opernpraxis jenseits der sinnentleerten Hyperaktivität gewöhnlicher Tanzfinale: Orpheus' Ballett im Böcklin-Dekor ist vollendet und wird zum melancholischen Abgesang auf seine Liebe.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2019)

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