EU-Gipfeltreffen

Die unmögliche Brexit-Einigung

Großbritanniens Premier, Boris Johnson, wurde in London regelmäßig über den Fortgang der Verhandlungen in Brüssel informiert.
Großbritanniens Premier, Boris Johnson, wurde in London regelmäßig über den Fortgang der Verhandlungen in Brüssel informiert.APA/AFP/POOL/STEFAN ROUSSEAU
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Nach mehr als zwei Jahren erfolgloser Verhandlungen müssen die EU-Chefs nun entscheiden, ob die Briten zu Monatsende wirklich gehen.

Brüssel. Nach langen Mühen, mehrfach verschobenen ultimative Fristen und dem Gerücht, Premierminister Boris Johnson werde noch in der Nacht auf Donnerstag persönlich nach Brüssel fliegen, musste Michel Barnier, Europas Brexit-Verhandler, den EU-Botschafter um knapp nach 19:30 Uhr ernüchtert mitteilen: Es ist sich nicht ausgegangen. Zumindest noch nicht. Einige Fragen seien noch offen, allen voran jene, ob das britische Nordirland auch nach dem Brexit dieselben Mehrwertsteuersätze wie die EU anwenden solle, und wie dies im Verhältnis zu jenen Großbritanniens stehe. Diese Schaffung einer Steuergrenze in der Irischen See brachte die nordirische Loyalistenpartei DUP in Rage; auf ihre Stimmen könnte Johnsons aber im Parlament von Westminster angewiesen sein, wenn er das Austrittsabkommen ratifiziert bekommen möchte.

Somit erhöht sich der politische Druck ebenso wie die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Verschiebung des Brexit, der eigentlich am 31. Oktober stattfinden sollte. Denn heute, Donnerstag, wollten die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen in Brüssel die von ihren Fachleuten verhandelte Einigung politisch absegnen. Am frühen Donnerstagmorgen wurde über Fortschritte, aber keinen Durchbruch berichtet. Für Detailverhandlungen werden Angela Merkel, Emmanuel Macron und ihre Amtskollegen keine Gelegenheit haben – zumal sie alleine, ohne ihre Mitarbeiterstäbe, im Sitzungssaal des Europa-Gebäudes tagen werden.

Drei dornige Probleme wie schon 2018

Das Adjektiv „fieberhaft“ wird inflationär eingesetzt, hier ist es aber angebracht. Noch am Donnerstag wollen die Verhandler weitermachen, eventuell sogar bis unmittelbar vor Beginn des Gipfeltreffens.

Doch ungeachtet der offenen Streitfrage sind die Europäer und die Briten nun ziemlich genau dort angekommen, wo sie fast auf den Tag genau vor elf Monaten schon einmal waren: bei einer Übereinkunft zu den Bedingungen des EU-Austritts der Briten, bei dem in so gut wie allen Punkten die Interessen der Europäer über die Wünsche Londons obsiegten. Es gibt keine fundamentalen Unterschiede zu jenem Abkommen vom 14. November 2018, auf welches Johnsons Vorgängerin Theresa May ihre letztlich vergeblichen Hoffnungen setzte.

Und somit sind auch die drei strittigen Hauptprobleme bis zuletzt ungeklärt. Erstens: Wie genau soll das Entstehen einer Zollgrenze zwischen Irland und Nordirland verhindert werden? Aus den Verhandlungen war zwischenzeitig durchgesickert, dass die Briten nun der Idee zugestimmt hätten, welche sie vor eineinhalb Jahren noch abgelehnt hatten: Nordirland solle so lang im Binnenmarkt und in der Zollunion mit der EU bleiben, bis sich eine dauerhafte anderweitige Lösung gefunden hat (also eine Versicherung, die bisher „Backstop“ genannt wurde). Logische Folge: Die Nordiren wären wirtschaftlich und regulatorisch näher an Dublin und Brüssel als an London. Das ist jedoch für die reaktionäre DUP ebenso inakzeptabel wie für manche radikalisierten Tories und die Brexit Party von Nigel Farage.

„Für uns am besten: Fertig, und aus“

Zweite offene Frage: Soll Stormont, das nordirische Parlament, über die Aufrechterhaltung des Backstops entscheiden dürfen, und wenn ja, in welcher Form und wie oft? Die Europäer wollten verhindern, dass Stormont alle vier Jahre über das Ende des Backstops abstimmen darf. Das könnte separatistische Bewegungen in Europa, allen voran in Katalonien, auf problematische Ideen bringen.

Dritte Frage: Wie lässt sich verhindern, dass die Briten nach der Brexit-Übergangsfrist bis Ende 2020 vor Europas Haustür illoyale Konkurrenz betreiben, indem sie Umwelt-, Sozial- und Arbeitsnormen unterbieten, aber gleichzeitig aus einem Freihandelsvertrag mit der EU Nutzen ziehen?

Und selbst wenn die Verhandler all diese Fragen klären, schwebt ein Damoklesschwert über dieser Brexit-Einigung: Findet Johnson in Westminster eine Mehrheit dafür? Stoßseufzer eines EU-Diplomaten: „Der für uns beste Deal wäre: Fertig, und aus.“

Auf einen Blick

Brexit-Verhandlungen. In den finalen Verhandlungen über ein geregeltes Ausscheiden Großbritanniens aus der EU dürfte die britische Seite laut Verhandlerkreisen Zollkontrollen in der Irischen See zwischen Nordirland und dem Rest des Königreichs akzeptiert haben. Dadurch könnte die innerirische Grenze offen bleiben. Es mussten aber noch mehrere technische Fragen gelöst werden. Etwa: Wie kann die EU die britischen Kontrollen kontrollieren? Wie soll das mit unterschiedlichen Mehrwertsteuersätzen funktionieren?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2019)

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