Gastbeitrag

Der INF-Vertrag ist außer Kraft gesetzt

Moskau versucht seit Jahren von seinen Verletzungen des Intermediate Range Nuclear Forces Vertrags (INF) abzulenken.

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Bis vor zwei Monaten galt der Intermediate Range Nuclear Forces (INF) Vertrag als einer der bedeutendsten Abrüstungsverträge der Welt. Das 1987 zwischen den Vereinigten Staaten und der damaligen Sowjetunion geschlossene Abkommen verbot landgestützte Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern, die Atomsprengköpfe tragen können. Seit Aufkündigung des Abkommens am 2. August werfen sich die USA und Russland gegenseitig vor, ein neues Wettrüsten anzuheizen. Der nüchterne Beobachter könnte meinen, die Wahrheit liege in der Mitte, beide hätten wohl ein wenig recht. Wer genauer hinsieht, weiß freilich: Moskau ist eindeutig der Schuldige. Am meisten beschäftigen sollte das aber nicht die USA, sondern Europa, denn es ist vom russischen Treiben weit mehr betroffen.

Russland hat seit über einem Jahrzehnt die Eckpunkte des Rüstungskontrollvertrags Schritt für Schritt untergraben, indem es heimlich mehrere nicht konforme Waffensysteme entwickelt hat, deren Reichweite bis nach Europa gehen – nicht nach Amerika. Das russische Verteidigungsministerium konnte sich mit dem INF-Vertrag seit dem Tag seiner Unterzeichnung nicht anfreunden. Er verbietet dem Militär die Entwicklung gewisser Fähigkeiten, auf die das Ministerium nicht verzichten will.

Präsident Putin und andere hochrangige russische Persönlichkeiten kritisieren den INF-Vertrag seit fast zwei Jahrzehnten. Er sei veraltet, erklären sie, und mit einem Land – der Sowjetunion – unterzeichnet worden, das nicht mehr existiert. Schon mehrfach hatte der Kreml mit dem Gedanken gespielt, aus dem Vertrag auszusteigen. Doch dann wollte Russland für sich selbst das in jeder Hinsicht Beste herausholen: alle vertraglichen Einschränkungen für die USA aufrechterhalten, aber selbst die Bestimmungen heimlich umgehen. Anders als Russland die Welt glauben machen will, wurde der Vertrag nicht bloß aus Sorge um eine einzige russische Rakete, die 9M729, von den USA beendet. Es ging um viel mehr: Russland baut seit zirka 2008 wieder an seinen Mittelstreckenraketen, und dabei handelt es sich nicht nur um die vom INF-Vertrag verbotenen Bodenstartsysteme, sondern auch um Luft- und Marinesysteme. So will Russland niemand anderen als Europa selbst besser ins Visier nehmen. In aller Öffentlichkeit diskutierte Russland die Verwendung einer Reihe von Raketen, darunter Zirkon, Rubesch und Kalibr-K, die alle den Vertrag verletzen und Europa einem großen Risiko aussetzen.

Moskau versucht seit Jahren von seinen Verletzungen des INF-Vertrags abzulenken, indem es die Öffentlichkeit mit Vorwürfen gegen die USA in die Irre führt. Es behauptet etwa, das Aegis-Raketenabwehrsystem der USA in Mittel- und Osteuropa beherberge Land-Angriffs-Raketen. Zum besseren Verständnis: In Rumänien wurde 2016 das erste „Aegis Ashore“ in Betrieb gesetzt. Ab 2020 soll das Aegis-Abwehrsystem auch in Polen in Betrieb genommen werden. Alle Nato-Alliierten und -Partner wissen aber: Die Raketenabwehrstandorte von „Aegis Ashore“ dienen ausschließlich der Raketenabwehr und beherbergen nicht eine einzige Land-Angriffs-Rakete.

Gespenst des Wettrüstens

Russland warnt jetzt vor einem „Rüstungswettlauf“, allerdings nur um einer entsprechenden Reaktion des Westens vorzubeugen. Mit anderen Worten: Das von Russland aufgebaute Gespenst eines Wettrüstens in Europa soll nur einer politischen und militärischen Reaktion des Westens präventiv die Rechtfertigung entziehen. Der Westen wird sich davon nicht beeindrucken lassen. Aber die europäische Öffentlichkeit sollte darüber informiert sein.

Werner Schmidt lebt und arbeitet als freischaffender Journalist in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2019)

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