Der Fluch des neuen Stadions

Son Heung-min genießt das Spiel in Tottenhams Schmuckstück. 62.062 Zuschauer finden Platz, unter dem Rasen warten eine Brauerei, die längste Bar Englands – und ein Hundeklo.
Son Heung-min genießt das Spiel in Tottenhams Schmuckstück. 62.062 Zuschauer finden Platz, unter dem Rasen warten eine Brauerei, die längste Bar Englands – und ein Hundeklo.REUTERS
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Tottenham geißelt das gleiche Schicksal, dem Arsenal nach Jahren der Zäsur in dieser Saison zu entkommen scheint: Zu viel Geld floss in den Bau des Eigenheims statt in neue Spieler.

London. Was im alten Testament der Turmbau zu Babylon war, ist im modernen Fußball ein neues Stadion. Keine sechs Monate nach der Eröffnung seines Prunkstücks ist Tottenham Hotspur in die schwerste Krise seit Jahren gerutscht. Der historischen 2:7-Heimniederlage gegen Bayern München folgte ein blamables 0:3 beim Abstiegskandidaten Brighton. Statt eines Aufbäumens erlebten die Fans eine Kapitulation: „Wir haben unser Selbstvertrauen verloren“, räumte Manager Mauricio Pochettino ein. Gegen Schlusslicht Watford mussten sich die Spurs am Samstag mit einem 1:1 begnügen.

Tottenham ist damit auf Kurs, demselben Fluch zu unterliegen, den Lokalrivale Arsenal nach vielen Jahren abzuschütteln beginnt. 2006 bezogen die „Gunners“ ihr Stadion in Holloway, ein ehrgeiziges Zeichen dafür, dass sich der Klub zur Elite der Gegenwart zählte: Ein Fassungsvermögen von 60.704 Zuschauern macht es damals zu Londons zweitgrößtem Stadion nach Wembley. Mit 390 Millionen Pfund (560 Mio. Pfund zu heutigen Preisen) kostete die Sportstätte einen Rekordpreis.

Es war zu viel. Die Aktivitäten auf dem Transfermarkt waren nicht weiter von sportlichen Erwägungen bestimmt. „Ich hatte immer damit zu kämpfen, dass es drei oder vier Vereine gab, die mehr Geld ausgeben konnten als wir“, blickt Arsenal-Ikone Arsène Wenger zurück. „Man muss mit dem leben, was man hat.“ Bis 2013 nahm der Klub mehr an Spielerverkäufen ein, als er für Neuverpflichtungen ausgab. Das freute die Buchhalter, verärgerte aber die Fans: Aus den „Unbesiegbaren“ der Saison 2003/04, die 49 Spiele ungeschlagen blieben, wurden am Ende der Ära Wenger „Mitläufer“, die sogar die Champions League verpassten.

Um eine Milliarde Pfund

Denselben Weg muss nun Tottenham beschreiten: Um eine Milliarde Pfund wurde ein neues Stadion gekauft, das 2000 Plätze mehr als jenes von Arsenal hat und alle Stückerln spielt. Nur spielen müssen die Spieler – und für Transfers fehlt das (große) Geld: Um jene 90 Millionen Pfund, die im Sommer für drei Verstärkungen ausgegeben wurden, holte Manchester United allein Verteidiger Harry Maguire.

Die Krise der Spurs, die von den letzten 42 Spielen 19 verloren haben und auswärts schon zehn Monate sieglos sind, wird nirgendwo mit mehr Freude gesehen als bei Arsenal. Für nicht wenige „Gunners“-Fans ist der sportliche Höhepunkt im Jahr der sogenannte St. Totteringham's Day, an dem die „Gunners“ in der Tabelle nicht mehr von Tottenham überholt werden können. Er wird diese Saison früher als sonst kommen.

Luiz? Und die Özil-Krise!

Das jüngste Derby war jedoch symptomatisch für die Schwäche beider Vereine. Tottenham konnte einen Vorsprung nicht über die Runden bringen, Arsenal scheint diese Saison ohne Verteidigung spielen zu wollen. Während die Feuerkraft des Sturms mit Pierre-Emerick Aubameyang und Alexandre Lacazette gefürchtet und bewundert wird, steht im eigenen Strafraum eine Chaostruppe, die niemand besser symbolisiert als der Brasilianer David Luiz. Dass man 9,2 Millionen Pfund an Chelsea für den 32-Jährigen überwies, sorgte für Kopfschütteln wie Spott.

Dennoch scheint Luiz gesetzt, während Mittelfeldstar Mesut Özil bei Manager Unai Emery endgültig im Aus gelandet sein dürfte. Nicht einmal in der wenig geliebten Europa League kommt der Topverdiener des Vereins zum Einsatz: „Wir haben einen großen Kader, jeder muss um einen Platz kämpfen“, erklärt der Spanier mitleidlos. Statt auf dem Fußballfeld fiel Özil zuletzt vor allem durch Kritik an Deutschland und dem DFB auf, als er mit Teamkollegen Sead Kolasinac von türkischen Straßengangs bedroht wurde. Während sich Özil in seinem gepanzerten Geländewagen versteckte, verjagte Kolasinac die Angreifer.

Sowohl Arsenal als auch Tottenham haben beim Neubau ihrer Stadien Wert darauf gelegt, in ihrer Gemeinde zu bleiben. Die „Gunners“ zogen nur ein paar Hundert Meter von ihrem Traditionsplatz in Highbury weg. Obwohl sie extrem hohe Grundstückpreise zahlen mussten, bewahrten sie den Kontakt zu ihren Wurzeln, ihrer Fanbasis. Die Spurs errichteten ihr neues Stadion auf dem Grundstück der alten Spielstätte. Und dennoch, beide geißelt der Fluch des neuen Eigenheims. Ganz zu schweigen von der Ungewissheit, die über der ganzen Premier League schwebt ob des Brexit. Kommen dann neue Transfer-Reglen, verlieren EU-Spieler ihren Arbeitsstatus? Eines ist aber gewiss: Der Fußball in London wird noch teurer werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2019)

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