Wort der Woche

Happy Dystopie

James Lovelock, der 100-jährige Begründer der Gaia-Theorie, stellt den aktuellen Dystopien eine optimistische Spekulation gegenüber.

Im zarten Alter von 99 Jahren hat James Lovelock noch einmal zur Feder gegriffen – und verstört derzeit mit seinem neuen Buch noch einmal Fachcommunity und Öffentlichkeit. „Novacene. The Coming Age of Hyperintelligence“ (141 S., Allen Lane, 16 €) heißt das Werk, das im Sommer im englischen Original erschienen ist; auf Deutsch soll es im Jänner 2020 herauskommen.

Das erste Mal hatte der Chemiker in den späten 1970er-Jahren für Aufsehen gesorgt: Gemeinsam mit Lynn Margulis entwickelte er die Gaia-Theorie, die die Erde als lebendigen Organismus auffasst. Der Kern der Idee ist, dass das Leben auf der Erde selbsttätig dafür sorgt, dass die äußeren Bedingungen, die Leben ermöglichen, erhalten bleiben. Konkret: Alle Lebewesen zusammen halten den Sauerstoff- und CO2-Gehalt der Luft, den pH-Wert des Wassers, die Stickstoffmengen in der Umwelt usw. auf einem Niveau, das Lebensvorgänge zulässt. Oder anders formuliert: Organismen verändern ihr Habitat – genauso wie das Habitat die Organismen selbst verändert. Für diese damals revolutionäre These erntete er viel Kritik, er wurde auch als Esoteriker abgestempelt. Heute sind indes viele seiner Ideen anerkannt, auch hoch seriöse Philosophen wie Bruno Latour setzen sich damit auseinander.

Lovelocks neues Buch knüpft an die Gaia-Theorie an, allerdings über eine Hintertür. In seinen Augen geht nämlich das Zeitalter des „Anthropozäns“, in dem der Mensch der Erde seinen Stempel aufdrückt, bald zu Ende. Geprägt ist diese Zeit v. a. von den hohen CO2-Emissionen – wobei „Gaia“ dafür sorgt, dass ein Großteil der Treibhausgase wieder aus der Atmosphäre entfernt wird; ohne Leben auf der Erde gäbe es demnach viel mehr CO2 in der Luft, es wäre zu heiß für jegliches Leben.

Abgelöst wird das Anthropozän in Lovelocks Augen nun durch das Zeitalter des „Novozäns“, in dem künstliche Intelligenzen (er nennt sie „Cyborgs“) mit zigtausendfach besseren kognitiven Fähigkeiten das Ruder übernehmen. Das sollte uns aber keine Angst machen, meint Lovelock: Die Maschinen brauchen uns und alle anderen Lebewesen, um gemäß der Gaia-Theorie die Bedingungen auf der Erde in einem Bereich zu halten, der auch für die Maschinen verträglich ist; denn bei 50 Grad würde auch kein Computer auf Dauer funktionieren können. Aus eigenem Interesse würden die Cyborgs also darauf erpicht sein, unsere Spezies als Kollaboratore (zum Kühlen der Erde) zu erhalten.

Ob Lovelock, der 100-Jährige, mit dieser optimistischen Spekulation recht hat, wird er wohl nicht mehr erleben. Wir vielleicht aber schon.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2019)

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