Literatur

„Die Altruisten“: Wie aus Jonathan Franzens Kosmos

Andrew Ridker.
Andrew Ridker.(c) George Baier IV
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Andrew Ridkers Roman „Die Altruisten“ entfaltet die Geschichte einer dysfunktionalen Familie: komisch, sarkastisch, inspiriert von einem großen Vorbild. Ein grandioses Debüt.

Es ist die nachgerade idealtypische Konstellation für eine Familienaufstellung: Zwei Jahre nach dem Tod der Mutter, Francine – einer Psychoanalytikerin, die die Familie zusammengehalten hat –, holt Arthur Alter die entfremdeten Kinder nach langer Funkstille zu einem inszenierten Versöhnungswochenende aus New York zurück ins verwaiste und eilig aufgeputzte Haus nach St. Louis. Ethan und Maggie haben ihrem Vater die Affäre mit der deutschen Historikerin Ulrike nicht verziehen, die er just begonnen hat, als seine Frau mit einer Krebsdiagnose konfrontiert worden ist. Und auch, dass er die Familie einst von Boston in den Mittelwesten verfrachtet hat, tragen sie ihm nach.

Kunstvoll verschachtelt, in Rückblenden und Nebensträngen entfaltet Andrew Ridker in seinem Romandebüt die Geschichte einer dysfunktionalen Familie, angesiedelt im gehobenen Mittelschichtsmilieu. Desillusioniert, beruflich und finanziell am Ende, versucht Arthur die Beziehung zu Ethan und Maggie zu kitten, indem er Kindheitserinnerungen auffrischt und eine heile Welt vorgaukelt. Von altruistischen Motiven ist er indes nicht getrieben. Das Haus ist alles, was ihm geblieben ist, und um es zu behalten, benötigt er die finanzielle Unterstützung seiner Kinder. Als Erbe hat ihnen die Mutter einen Fonds überschrieben, der noch unangetastet ist.


Jeder trägt seine Bürde. Altruisten sind die Alters allesamt längst nicht mehr, vielmehr lebensfremde, neurotische Egozentriker, die in ihrem eigenen Kosmos kreisen. Jeder trägt schwer an seiner Bürde. Nicht nur Arthur ist als geduldeter und pensionsreifer Collegedozent aus der Bahn geworfen, auch seine Kinder fristen ein Dasein ohne Halt und Orientierung. Ethan hat seinen gut dotierten Job in der Finanzbranche aufgegeben, stürzt sich in Schulden und gibt sich der Einsamkeit und dem Alkohol hin, um über Traumata hinwegzukommen, die er als junger Homosexueller erlitten hat. Und Maggie, die Idealistin mit der antikapitalistischen Grundhaltung, die sich als Au-pair bei einer Immigrantenfamilie in Queens verdingt, leidet an einem ausgewachsenen Helfersyndrom.

Im Herzland der USA kommen sie zusammen, mit unterschiedlichen Interessen und Ambitionen – um etwas gutzumachen, aufzuarbeiten. Oder schlicht, um nachzuspüren, wo und wie sich ihr Leben aufzulösen begann. Es ist ein typisch amerikanisches Familiendrama wie Dutzende andere auch, aber hellsichtiger, vielschichtiger, psychologisch dichter, ironischer als die Dutzendware der US-Literatur, mit präzisen gesellschaftlichen Betrachtungen.

Andrew Ridker hat ganz offenkundig seinen Jonathan Franzen gelesen. Seine Protagonisten scheinen wie aus der Franzen-Welt entsprungen, wie aus einer Mixtur aus „Die Korrekturen“ und „Freiheit“. Wie er Unimilieu und Collegeleben im Mittelwesten schildert; wie er die Vorgeschichte der Alter-Eltern und ihre jüdische Prägung beschreibt, die in einer famosen Hochzeitsszene kulminiert; wie Francines Glück und Emanzipation in ihrem Auslandsjahr in Paris gipfelt und später ihre Vorahnung, dass sie womöglich besser dran wäre ohne Arthur; wie Arthurs Abenteuer als Entwicklungshelfer und Plumpsklokonstrukteur in den 1980er-Jahren in Simbabwe im Desaster endet; und wie Ridker am Ende die drei Alters zusammenführt: Das ist komisch, sarkastisch, von großer Erzählkunst – und erinnert in der Komposition an Franzen. Ridker ist ein bestrickendes Familienporträt gelungen, mithin ein grandioses Debüt – und es macht Lust auf ein Nachfolgewerk.

Neu Erschienen

Andrew Ridker
Die Altruisten

Übersetzt von
Thomas Gunkel
Penguin Verlag
396 Seiten
22,70 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.10.2019)

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