Nach monatelangen Demonstrationen suche Peking nun für eine Nachfolge von Carrie Lam in der chinesischen Sonderverwaltungszone, heißt es in einem Bericht. Aus China kommt ein Dementi.
Sind die Tage von Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam gezählt? Wie die "Financial Times" berichtete, erwägt die chinesische Führung langfristig eine Ablösung der umstrittenen Politikerin, die Hongkong in die schwerste Krise seit der Rückgabe 1997 an China geführt hat. Ihre kontroversen Pläne für die Auslieferung von Verdächtigten an China, die die seit Monaten anhaltenden Demonstrationen ausgelöst hatten, wurden am Mittwoch nach der Sommerpause im Parlament auch formell zurückgezogen.
Über die Zukunft der unpopulären Regierungschefin wird schon länger spekuliert. Falls sich Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping für einen Wechsel entscheiden würde, könnte ein Nachfolger bis März eingesetzt werden und den Rest der Amtszeit bis 2022 übernehmen, schrieb die "Financial Times". Die Lage müsse sich aber vorher stabilisieren. Peking wolle nicht den Eindruck erwecken, sich der Gewalt auf den Straßen zu beugen, zitierte die "Financial Times" Personen, die über die Pläne unterrichtet worden sein sollen.
Nachfolger schon im Gespräch
Die Regierung in Peking dementierte wie erwartet: "Das sind politische Gerüchte aus niederen Motiven", sagte Außenamtssprecherin Hua Chunying. Die Zentralregierung stehe voll hinter Lam und ihren Bemühungen, so schnell wie möglich die Unruhen zu beenden und die Ordnung wiederherzustellen. Mögliche Nachfolger werden in Hongkong aber schon gehandelt: Norman Chan, einst Chef der Währungsaufsicht, oder Henry Tang, früher Verwaltungschef und Finanzminister.
Die Kundgebungen hatten im Juni als Widerstand gegen einen inzwischen zurückgezogenen Gesetzentwurf für Auslieferungen Beschuldigter an die Volksrepublik China begonnen. Und nun ist am Mittwoch ein Verdächtiger aus der Haft entlassen worden, der im Mittelpunkt der Kontroverse um das zurückgezogene Auslieferungsgesetz in Hongkong stand. Der 20-Jährige wird beschuldigt, 2018 in Taiwan seine schwangeren Freundin ermordet zu haben.
Tauziehen um politischen Gefangenen
Ein politisches Tauziehen zwischen der zu China gehörenden Sonderverwaltungsregion und der demokratischen Insel Taiwan, die Peking als Teil der Volksrepublik betrachtet, verhindert aber vorerst eine Überstellung. Da es kein Auslieferungsabkommen zwischen beiden Seiten gibt, konnte der mutmaßliche Mörder 2018 nicht von Hongkong ausgeliefert werden. Regierungschefin Carrie Lam hatte das zum Anlass genommen, um ein Gesetz einzubringen, das Auslieferungen nicht nur nach Taiwan, sondern auch nach China ermöglicht hätte. Während Taiwan ein unabhängiges Justizsystem hat, stehen die Gerichte und Staatsanwälte in der Volksrepublik unter Führung der Kommunistischen Partei und dienen auch der politischen Verfolgung.
Aus Angst vor dem langen Arm Chinas begannen im Frühjahr die Proteste in Hongkong. Auch der Rückzug des Gesetzentwurfes konnte die Lage nicht beruhigen. Die Demonstranten fordern inzwischen auch eine unabhängige Untersuchung von Polizeibrutalität bei den Protesten, Straffreiheit für die mehr als 2000 Festgenommenen und freie Wahlen. Seit der Rückgabe 1997 an China wird die frühere britische Kronkolonie nach dem Grundsatz "ein Land, zwei Systeme" in ihrem eigenen Territorium autonom regiert. Die Proteste, die häufig in Ausschreitungen enden, dauern bereits 20 Wochenenden in Folge an.
Ungelöste Souveränitätsfragen erschweren weiter das Ringen zwischen den Behörden in Hongkong und Taiwan um den mutmaßlichen Mörder. Erst wollte Taiwan, dass er in Hongkong vor Gericht gestellt wird, doch sieht sich die Justiz dort nicht zuständig. Jetzt will sich der 20-Jährige zwar den Behörden in Taiwan stellen, er kann aber ohne Genehmigung aus Taipeh nicht reisen. Zuletzt wollte Taiwan Polizisten schicken, um ihn abzuholen, was Hongkong aber aus Statusgründen nicht erlaubt, weil China die Hoheit Taiwans nicht anerkennt.
(APA/dpa/Reuters)
(Reuters/red.)