Analyse

Ein Milliardenpaket soll die Chilenen besänftigen

Nach tagelangen Unruhen entschuldigte sich Präsident Piñera für die Ungleichheit im Land.
Nach tagelangen Unruhen entschuldigte sich Präsident Piñera für die Ungleichheit im Land. REUTERS
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Nach tagelangen Unruhen entschuldigte sich Präsident Piñera für die Ungleichheit im Land. Er nahm die Strompreiserhöhung zurück, setzte einen Mindestlohn fest und versprach Gehaltskürzungen bei Politikern.

Buenos Aires/Santiago. Sebastián Piñera legte den Rückwärtsgang ein. Hatte Chiles Präsident am Sonntag noch martialisch erklärt, Polizisten und Militärs auf den Straßen führten Krieg gegen einen organisierten und planvoll vorgehenden Gegner, so begab er sich zwei Abende später nach Canossa: „Es ist wahr“, sagte der Milliardär an der Macht, der seinen Staat noch vor drei Wochen als Oase des Friedens auf einem chronisch turbulenten Kontinent gepriesen hatte. „Die Probleme sammeln sich hier seit vielen Jahrzehnten an. Die verschiedenen Regierungen und auch wir erkannten diese Situation nicht in ihrem ganzen Ausmaß. Ich realisiere das nun und bitte um Entschuldigung für diesen Mangel an Weitsicht.“

Dieses Mea culpa sprach Piñera während der vierten Nacht, in der in der Hauptstadtzone sowie in neun weiteren Regionen eine nächtliche Ausgangssperre galt, um neue Verwüstungen zu unterbinden. In der vorigen Woche waren Oberschüler-Proteste nach einer Preiserhöhung für U-Bahn-Billets massiv ausgeufert und hatten sich in einer Serie von Brandstiftungen gegen U-Bahnen, Busse, Supermärkte, Medienhäuser und die Zentrale der Elektrizitätsgesellschaft entladen.

Dahinter vermutete die Regierung einen systematischen Destabilisierungsplan und rief erstmals seit 1987 die Militärs auf die Straßen. Weil diese drastische Maßnahme nun immer mehr und immer ältere Bürger auf die Straßen brachte, während die Jugend in den Nächten die Ausgangssperren missachtete, sah Piñera offenbar keinen anderen Ausweg, als den Kern des Konflikts anzusprechen: Chiles beeindruckend angewachsener Wohlstand ist ungeheuer ungleich verteilt. Seit Jahren vermeldet die einst ärmste spanische Kolonie in Südamerika die höchsten Durchschnittseinkommen der Region. Doch die Gehälter der meisten Familien reichen nicht bis Monatsende. Vor allem in Santiago stiegen die Preise viel schneller als die Gehälter. Elf von 18 Millionen Bürgern haben nun Schulden, und die vom Finanzmarkt abhängigen Pensionen reichen den Älteren nicht einmal für die Medikamente, die ständig teurer werden.

Billigere Arzneien

Diese Missstände sind der Regierung erst eingeleuchtet, als Apotheken und Bankfilialen in Flammen standen. Nun kündigte Piñera ein Paket von Maßnahmen an, das etwa 1,2 Milliarden Dollar kosten wird. Alle Vollzeitbeschäftigten sollen ab sofort mindestens 350.000 Pesos pro Monat verdienen, das sind etwa 430 Euro. Firmen dürfen nicht mehr, wie bisher oft praktiziert, die gesetzlichen Mindestlöhne unterschreiten. Zudem sollen Gutverdiener, die mehr als umgerechnet 10.000 Euro verdienen, künftig 40 Prozent Steuern abführen.

Die vor einigen Wochen angekündigte Erhöhung der Strompreise um 9,2 Prozent werde zurückgenommen und gemeinsam mit den Apotheken solle ein Weg ausgearbeitet werden, um Arzneien erschwinglicher für zwölf Millionen Bürger zu machen. In einigen linksregierten Gemeinden ist das offenbar durch Genossenschaftsmodelle seit geraumer Zeit gelungen. Auch die politische Klasse, deren hohe Gehälter und Privilegien den Zorn der meisten Bürger befeuert, soll Federn lassen müssen: Gehaltszulagen sollen reduziert und Mandate zeitlich beschränkt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2019)

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