"Debatte": Alle in der Falle

Debatte Alle Falle
Debatte Alle Falle(c) EPA (KOBI GIDEON)
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Nach dem Angriff Israels auf die internationale Friedensflotte "Mavi Marmara" wird es Monate dauern, bis der Scherbenhaufen wieder weggeräumt ist.

Beim Zwischenfall der Aufbringung der „Mavi Marmara“ vor der Küste Gazas verdichtete sich innerhalb kürzester Zeit auf eindrucksvolle Weise die gesamte Problematik des Nahost-Konfliktes. Mit einer gewissen Faszination konnte man beobachten, wie schnell es allen handelnden Parteien gelang, einander rasch schachmatt zu setzen.

In der Zwischenzeit ist völlig klar, dass die Marineeinheiten Israels nicht auf eine solche Eskalation der Gewalt vorbereitet waren. Paintball-Pistolen à la Strache und Freunde, wie sie die israelischen Soldaten umgehängt hatten, sind sicher nicht die geeigneten Waffen, um einem lynchwütigen Mob sogenannter „Friedensaktivisten“ zu begegnen. Als die Situation für die Israelis lebensbedrohlich wurde, mussten sie dann gleich zu scharfer Munition greifen, was wieder nicht adäquat war und dann zum Desaster mit neun Toten führte. Wie der politischen und militärischen Führung Israels eine solche Fehleinschätzung einer Situation unterlaufen konnte, die sie weder zum ersten Mal noch unvorbereitet traf, kann nur im Rahmen der verrückten Logik des gesamten Konfliktes verstanden werden.

Für Israel stand und steht außer Zweifel, dass die den Gazastreifen kontrollierende Hamas eine Terrororganisation ist, die Israel – deklarierterweise– zerstören möchte. „Friedensaktivisten“ sind bestenfalls naiv bzw. unterstützen zum Teil ganz offen dieses Ziel der Hamas. Israel fühlte sich daher völlig im Recht, die „Friedensflotte“ aufzubringen. Eine Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung in der Welt musste ohnehin sinnlos erscheinen, da sich in Israel seit Jahren die Gewissheit breitgemacht hat, man könne sich noch so bemühen, „die Welt“ würde Israel in jedem Fall verurteilen.

Dass Israel unter der Regierung von Premierminister Netanjahu, jetzt schon zum wiederholten Male, durch sein Handeln ins politische Abseits geriet, ist auch nicht zufällig; er ist sicher eher ein Anhänger der politischen Strategie – „machen wir einmal und schauen wir dann weiter“. Dies im Gegensatz zum Beispiel zum israelischen Staatspräsidenten Shimon Peres, der ein Musterbeispiel eines Politikers ist, der zuerst lange überlegt, bevor er – noch dazu – weitreichende Entscheidungen trifft. Dass es Netanjahu schon zweimal gelang, zum Premierminister Israels gewählt zu werden, während Peres es nicht einmal ein einziges Mal schaffte, erklärt wieder sehr viel über den Zustand der israelischen Gesellschaft nach über sechzig Jahren Existenzkampf.

So sehr die Hamas und ihre türkischen Unterstützer den Tod ihrer neun Mitstreiter auch als großen politischen Sieg feiern – eines steht dennoch außer Zweifel: Diese politische Kraft unter den Palästinensern geht zynisch, brutal und skrupellos mit menschlichem Leid und Leben um, nicht nur mit dem der Menschen in Israel und der westlichen Welt, sondern auch mit dem der eigenen Bevölkerung. Die Islamisten sind rückwärtsgewandt, sind völlig unfähig zu konstruktivem und kompromissfähigem Handeln und wären ein Garant für ein Verbleiben der Palästinenser im politischen Abseits, fernab der modernen Welt und der Ideale von Freiheit, Demokratie und Wohlstand.

Vorerst in der Falle befindet sich jetzt auch die Türkei, nachdem sie sich jetzt schon seit Jahren in eine zunehmend groteske Situation manövriert hat: Einerseits ist sie seit Jahrzehnten Mitglied der Nato, ein wichtiger Verbündeter des Westens und auch Israels. Andererseits versuchte sich die Türkei in den letzten Jahren mehr Anerkennung in der arabischen Welt zu verschaffen, versagte z.B. den Amerikanern die Eröffnung einer zweiten Front im Irak-Krieg, hat sich – gerade in den letzten Monaten – stark der Achse Syrien/Iran angenähert und sogar gemeinsame Militärmanöver abgehalten. Schließlich stand die Türkei auch federführend hinter der „Friedensflotte“ und exponierte sich besonders in der Kritik an Israel.

Dennoch wird die Türkei weiterhin als wichtige Brücke zwischen dem Westen und der muslimischen Welt angesehen. Man gesteht der Türkei eine Vermittlerrolle und eine Zuständigkeit in Menschenrechtsfragen zu, obwohl der Leistungsausweis der Türkei in Sachen Menschenrechte und Menschenleben nicht gerade großartig ist: Im bereits jahrzehntelang andauernden Konflikt mit den Kurden sind nach Schätzungen 40.000 Menschen umgekommen, das sind über fünfmal so viele Opfer wie im israelisch-palästinensischen Konflikt.

Als besondere Pikanterie der Geschehnisse der vergangenen Woche muss wohl gelten, dass ebendiese Türkei just in den vergangenen zwei Wochen Lager kurdischer Rebellen bombardierte, ohne – wie man annehmen kann – besondere Rücksicht auf das Leben Unschuldiger zu nehmen. Sie wurde (genau gleichzeitig mit der gewalttätigen Eskalation auf der „Mavi Marmara“ – selbst Ziel einer kurdischen Vergeltungsaktion, bei der elf türkische Soldaten und Sicherheitsleute getötet wurden. Dies war aber offensichtlich weder der Türkei noch der Weltöffentlichkeit eine nähere Beachtung wert.

Sei's drum. Jetzt steht die Türkei vor den Trümmern ihrer Politik, eine Aufhetzung ihrer Bevölkerung gegenüber Israel zugelassen, ja sogar gefördert zu haben. Nur so ist der Fanatismus der türkischen Aktivisten auf der „Mavi Marmara“ zu verstehen, die wie eine wilde Meute auf die israelischen Soldaten losgingen, während sich ja die „Friedensaktivisten“ auf den anderen fünf Schiffen durchaus friedlich verhielten. Auch die Todesopfer sind allesamt Türken.

Schließlich bleiben da noch die Friedenseiferer in aller Welt, die ihre Aufmerksamkeit so gar nicht von Israel lösen können und sich in der vergangenen Woche ob ihrer Verurteilungswut kaum mehr halten konnten. Gerüchte, wonach der Bienenzüchterverein von Grammatneusiedl eine Dringlichkeitssitzung des Vorstandes einberufen hat, um schnellstmöglich seiner einhelligen Empörung über Israel mittels einer Resolution Ausdruck zu verleihen, haben sich zwar nicht bestätigt, aber zumindest der Wiener Gemeinderat konnte sich binnen 24 Stunden mit einer einhelligen Verurteilung Israels einen denkwürdigen Platz auf der Bühne der Weltpolitik sichern. Das zigtausendfache Morden im Sudan, in Sri Lanka, Mexiko, Tschetschenien usw. wühlte die Wiener Gemeinderäte ganz offensichtlich nie besonders auf. Bei Israel hatten die Gemeinderäte Omar Al-Rawi, Dr. Harald Troch und Nurten Yilmaz (alle SPÖ) binnen Stunden eine Resolution verfasst, der alle zustimmten.

Besonders entlarvend auch die Stellungnahme von Ex-Kanzler Schüssel, nunmehr außenpolitischer Sprecher der ÖVP: Zuerst verurteilt er scharf den israelischen Angriff als unangemessenes Verhalten, um danach eine möglichst rasche Aufklärung des Vorfalls zu fordern. Also was jetzt – zuerst aufklären oder gleich verurteilen? Ein ausgezeichnetes Beispiel für das Verhalten vieler europäischer Politiker, die sich mit solchen Stellungnahmen völlig disqualifizieren und sich dann wundern, wenn sich die Israelis in ihrer Annahme bestätigt fühlen, dass man sie ohnehin immer verurteilt, ohne die näheren Fakten zu kennen oder wahrnehmen zu wollen, und sie daher diese nie und nimmer als unparteiische und unvoreingenommene Vermittler und Friedensstifter akzeptieren können.

So sitzen vorerst einmal alle in der Falle: Die Israelis, die Hamas und die Palästinenser des Gazastreifens, die Türkei und schließlich auch die vielen sich empört habenden Politiker und Friedensaktivisten. Es wird wieder Monate dauern, bis der Scherbenhaufen weggeräumt ist und die vernünftigen und besonnenen Personen auf allen Seiten wieder mit ihrer Sisyphusarbeit beginnen; alle jene Persönlichkeiten wie der palästinensische Premierminister Fayyad, Israels Staatspräsident Shimon Peres, der ehemalige britische Premierminister Blair und viele andere– all jene, die sich auffallenderweise in den letzten Tagen einer Stellungnahme enthielten, sicher nicht weil ihnen der Vorfall entgangen war oder sie womöglich nicht berührte.

Nein, sie wissen, wie unendlich kompliziert alle diese Episoden des Nahost-Konfliktes sind, dass man den ganzen Weg, den man in eine Richtung rudert, später wieder zurückrudern muss, um mit dem Gegenüber wieder ins Gespräch kommen zu können, und vor allem: Die wissen, wie viel mehr Aufwand es bedeutet, Porzellan zu kitten, als es kaputtzuschlagen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2010)

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