Gastkommentar

Kinderarmut in Österreich: Worum es wirklich geht

Mittelfristige und nachhaltig wirkende Armutsbekämpfung muss auf die Lebensbedingungen von Kindern zielen.

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In der politischen Diskussion und wohl auch bei den türkis-grünen Sondierungsgesprächen spielt die Bekämpfung der „gestiegenen Kinderarmut“ eine wichtige Rolle. Allerdings: Bei kaum einem Thema können Zahlen zu so viel Fehlinterpretationen verleiten wie bei der Armut.

Die kolportierten Zahlen beziehen sich meist auf die EU-weit verwendeten relativen Armutsmaße: Arm ist, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Pro-Kopf-Einkommens eines Landes verfügt. Armut wird dabei auf Grundlage des Haushaltseinkommens definiert. Demnach waren 2018 in Österreich 301.000 Kinder armutsgefährdet. Diese Werte sind zuletzt gestiegen, wohingegen die Armutszahlen insgesamt gefallen sind.

In der Praxis spielen jedoch absolute Armutsmaße eine viel wichtigere Rolle. Mit diesen wird politisch fixiert, wieviel Einkommen ein Mensch mindestens zum Leben haben soll. Beispielsweise durch den Ausgleichszulagenrichtsatz (in der Sozialversicherung) oder durch Richtsätze in der Mindestsicherung.

Die diversen Armutsgrenzen sind in ihrer Höhe allerdings sehr unterschiedlich. In der relativen Armutsbetrachtung betrug etwa für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern die Armutsgrenze (2018) 2643 Euro, der Richtsatz für die Ausgleichszulage (2019) 1687 Euro und der Mindeststandard bei der Wiener Mindestsicherung (2019) 1806 Euro.

Wer genau ist die Zielgruppe?

Zwar kommen bei diesen Werten noch Familienbeihilfen, Wohnbeihilfen, etc. dazu. Dennoch liegen die Beträge unter den (relativen) Armutsgrenzen. Und daher gibt es in dieser Sicht auf einmal viel weniger „armutsgefährdete Kinder“: So leben etwa knapp 80.000 Kinder in Familien, die Mindestsicherung beziehen. Allerdings wären dazu noch jene Kinder zu zählen, deren Familien Mindestsicherung zustehen würde, die sie aber nicht bekommen oder nicht in Anspruch nehmen. Die Dimensionen des Problems schauen aber jedenfalls ganz anders aus.

Es braucht also eine klare Vorstellung, wer die Zielgruppe einer armutsbekämpfenden Politik sein soll. Umso mehr, als eine genauere Analyse der Zahlenwerke zu Schlussfolgerungen führt, die für sich genommen paradox sind: So würde sich die Umsetzung der türkis-blauen Sozialhilfereform zumindest kurzfristig kaum auf die Zahl der nach EU-Konvention armutsgefährdeten Kinder auswirken, weil die von den Verschlechterungen bedrohten Kinder schon vor der Verschlechterung „arm“ sind und es daher nicht mehr werden können.

Das effektivste Mittel

Nach der jüngsten WIFO-Verteilungsstudie spricht viel dafür, dass die Zahl der (statistisch) armutsgefährdeten Kinder in den letzten Jahren vor allem deshalb steigt, weil es den Pensionistenhaushalten deutlich besser geht als im Vergleichszeitpunkt. Kombiniert mit demografischen Verschiebungen kam es zu einer Erhöhung des für die Armutsmessung relevanten Medianeinkommens. Mit der ökonomischen Situation der Kinder hat das jedoch nichts zu tun.

Die Politik sollte daher nicht das primäre Ziel verfolgen, Armutszahlen zu senken – so paradox das klingen mag. Auch kann der langfristige Nutzen von Geldleistungen, die „armen Menschen“ zuerkannt werden, begrenzt sein. Dazu ein paar Beispiele: Gemäß der WIFO-Verteilungsstudie hat sich die ökonomische Situation von jungen Familien mit Kindern vor allem durch die Markteinkommen verschlechtert und ist nicht Folge von Änderungen im Abgaben- und Transfersystem. Nachhaltige Armutsbekämpfung muss daher am Arbeitsmarkt ansetzen, etwa bei der Entlastung niedriger Lohneinkommen, aber auch bei ungewollter Teilzeitarbeit, bei Kinderbetreuungseinrichtungen, etc.

Einkommenszahlen drücken die wirkliche Problematik armutsgefährdeter Menschen oft nur ungenau aus, weil es die Kostenbelastung ist, die Familien in eine prekäre Situation bringen. So steht die oben erwähnte vierköpfige Familie im Falle einer monatlichen Mietzahlung von 1200 Euro ungleich armutsgefährdeter da als eine ähnliche Familie mit gleich hohem Einkommen, die im selbstgenutzten Eigentum lebt. Damit wird z.B. Wohnungspolitik zu einem wichtigen Element der Armutsbekämpfung.

Mittelfristige und nachhaltig wirkende Armutsbekämpfung muss auf die Lebensbedingungen von Kindern zielen, die auch in einem sozialen Sinn benachteiligt sind. In dieser Sicht wird die Förderung von Brennpunktschulen oder die frühzeitige Eingliederung von ausländischen Kindern in den Kindergarten bzw. entsprechende Deutschkurse zum effektivsten Mittel der Armutsbekämpfung.

Als politisches Ziel definieren

Armutsbekämpfung sollte daher nicht nur um die Diskussion der Familienbeihilfenhöhe oder Gewichtungsfaktoren für Kinder in der Mindestsicherung kreisen, sondern an die Wurzeln der Probleme gehen. So wäre schon viel gewonnen, wenn die Bekämpfung von Armut als ein ausdrückliches politisches Ziel definiert würde – was gegenwärtig in der Sozialhilfe nicht der Fall ist.

Auch ist ein gesellschaftlicher Konsens wahrscheinlich, dass junge Eltern am Arbeitsmarkt genug verdienen sollten, um ihre Familie ohne staatliche Hilfsleistungen erhalten zu können. Vielleicht wären solche Prinzipien Leitlinien in kommenden Koalitionsverhandlungen?

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Christoph Badelt (* 1951 in Wien) studierte Volkswirtschaftslehre. Er lehrte Wirtschafts- und Sozialpolitik an der WU Wien, wo er von 2002 bis 2015 auch Rektor war. Gastprofessuren an der University of Wisconsin-Madison und an der Uni Klagenfurt. Seit 2016 ist er der Leiter des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo).

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