Libanon

„Hariris Abgang ist nur der Anfang“

Anti-Aufruhr-Einheiten gehen in Position, nachdem Hisbollah-Schläger im Zentrum Beiruts Demonstranten angegriffen hatten.
Anti-Aufruhr-Einheiten gehen in Position, nachdem Hisbollah-Schläger im Zentrum Beiruts Demonstranten angegriffen hatten.(c) REUTERS (AZIZ TAHER)
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Nach zweiwöchigen Unruhen erklärte Premierminister Saad Hariri seinen Rücktritt. Der Protestbewegung dürfte das nicht genügen – sie will, dass die ganze korrupte Politikerkaste geht.

Tunis/Beirut. Seit zwei Wochen ist der Libanon in Aufruhr. Hunderttausende fordern den Rücktritt der Regierung und eine grundlegende Reform des gesamten politischen Systems. Am Dienstag nun zog Premierminister Saad Hariri als Erster aus der libanesischen Führungsriege die Konsequenzen. Er lege sein Amt im Interesse der Nation nieder, sagte der 49-Jährige in einer kurzen Fernsehansprache und fügte hinzu, es sei Zeit, einen großen Schock zu provozieren, um sich der Krise zu stellen.

Zog Konsequenzen: Saad Hariri.
Zog Konsequenzen: Saad Hariri.(c) REUTERS (MOHAMED AZAKIR)

Von den Demonstranten in den Straßen wurde der Rücktritt mit Jubel begrüßt. Menschen umarmten sich und teilten Süßigkeiten an Umstehende aus. „Saad Hariri, das ist nur der Anfang“, erklärte einer aus der Menge im Beitrag eines lokalen Fernsehsenders.

Auch die Hisbollah im Visier

Seit 13 Tagen begehren die Bürger im gesamten Land gegen ihre korrupte und unfähige Politikerkaste auf, die den Libanon in Grund und Boden gewirtschaftet hat. „Wenn wir sagen, alle müssen gehen, meinen wir alle“, skandierte die Menge, die mit Sit-ins immer wieder wichtige Verkehrsadern Beiruts blockiert.

Frankreichs Außenminister, Jean-Yves Le Drian, dessen Land den Libanon bis zu dessen Unabhängigkeit 1943 als Kolonialmacht beherrscht hat, regierte besorgt. Der Rücktritt des Regierungschefs mache „die Krise noch wesentlich gravierender“, erklärte er vor dem Parlament in Paris und beschwor die libanesische Führung, „alles nur Mögliche zu tun, um die Stabilität der Institutionen und die Einheit des Libanon zu garantieren“.

Am Wochenende hatten die Menschen eine 170 Kilometer lange Menschenkette gebildet, die von der Stadt Tripoli im Norden über Beirut bis nach Tyros im Süden reichte. Damit wollten sie unterstreichen, dass die Forderungen nach einem grundlegenden Staatsumbau von allen Teilen der Gesellschaft getragen werden, egal welcher Religion oder Ethnie sie angehören. Ausdrücklich mit im Visier bei ihren Rücktrittsforderungen haben die Volksmassen auch die Vertreter der Hisbollah, die mit ihren bewaffneten Milizen einen Staat im Staate bildet.

Die Hisbollah jedoch ist nicht bereit, dem Druck der Straße nachzugeben. Ihr Chef, Hassan Nasrallah, lehnte in einer TV-Ansprache ausdrücklich einen Rücktritt der Regierung sowie des Präsidenten ab. Dies könnte das Land in einen neuerlichen Bürgerkrieg stürzen. Gleichzeitig ließ er demonstrativ eine Kolonne von Motorradfahrern mit Hisbollah-Flaggen durch die Straßen kreuzen, um die Kritiker einzuschüchtern.

Finanzieller Kollaps droht

Im Iran, der Schutzmacht der Hisbollah, gehören Angriffe von Motorrad-Rowdys auf Regimegegner zum Repertoire staatlicher Repression. Am Dienstag fielen zudem schwarz gekleidete Hisbollah-Schläger auf dem Märtyrer-Platz von Beirut über das Protestcamp her, rissen Zelte nieder und verprügelten Anwesende. Eine Stunde später kehrten die Demonstranten wieder auf den Platz zurück, räumten die Trümmer beiseite und riefen die Bevölkerung über soziale Medien für den Abend zu einer Großkundgebung auf.

Ausgelöst wurden die größten Massenunruhen seit 2005 durch eine angekündigte Steuer auf WhatsApp-Telefonate. Der Libanon, wo nur eine Minderheit der sechs Millionen Bürger Steuern zahlt, gehört zu den drei am höchsten verschuldeten Staaten der Welt. Mehr als ein Drittel des Staatshaushaltes geht für die Tilgung von Krediten drauf, die sich mittlerweile auf 86 Milliarden Dollar belaufen. Der US-Sender CNN zitiert den Chef der libanesischen Zentralbank, Riad Salameh, mit den Worten, der finanzielle Kollaps des Libanon sei nur noch eine Frage von Tagen – eine Warnung, die der oberste Banker kurz danach jedoch wieder relativierte.

Seit zwei Wochen sind alle Banken geschlossen, weil sie einen Massenansturm der Sparer befürchten. Auch staatliche Dienstleistungen wie Wasserversorgung, Strom und Schulbildung werden immer schlechter. Bei der Müllentsorgung herrscht seit Jahren ein nationaler Notstand, der bereits 2015 schon einmal zu landesweiten Unruhen führte, die jedoch nichts bewegten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2019)

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