Kunsthalle Wien

Mit Kopfweh zurück in die Zukunft

Das Sujet von Félix González-Torres von 1992 ist jetzt an sechs Orten in Wien plakatiert.
Das Sujet von Félix González-Torres von 1992 ist jetzt an sechs Orten in Wien plakatiert. (c) Félix González-Torres Stiftung
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Mit einer alle Sinne schärfenden Gruppenausstellung über die 1990er verabschiedet sich Kurator Luca Lo Pinto aus Wien. „Time is thirsty“ sollte man ertragen.

Rasch streift er den Pulloverärmel hoch – natürlich hat er sich auch eines der Künstler-Tattoos stechen lassen, deren „Ausstellung“ bei „Air de Paris“ 1992 Luca Lo Pinto für seinen Wiener Abschied sozusagen „re-enacted“ hat: zwei schlichte Striche, die zwei Muttermale miteinander verbinden, nach einer Idee von Claude Closky. Sind es Achsen zwischen den Zeiten? So wie die süffig „Time is thirsty“ benannte Gruppenausstellung die 1990er-Jahre mit dem Heute verschmelzen lassen soll?

Die Kunst flirtet schon lange, man könnte sagen seit der Renaissance, mit der Möglichkeit des Zeitreisens, erst mit stilistischen Mitteln, heute stehen sogenannte „immersive“ zur Verfügung. Was im Kunstzusammenhang nicht unbedingt das ursprünglich auf virtuelle Welten bezogene Eintauchen bedeutet, sondern schlicht das sinnliche Überwältigtwerden. Ein solches versucht diese Ausstellung, die uns in einen zeitlosen Ausnahmezustand lotsen will, der die Theorie (nicht nur) Lo Pintos belegen soll: nämlich dass die Neunziger das (bisher) letzte Jahrzehnt waren, das Neues brachte: „Von da an scheint es nichts kulturell Bedeutsames zu geben, das es nicht in leicht veränderter Gestalt schon gegeben hätte“, heißt es im Katalogbooklet (echte Kataloge gab es in der Direktion Nicolaus Schafhausen, deren Programm jetzt langsam ausläuft, ja keine).

In den Neunzigern begann das Digitale unsere Wahrnehmung des Alltags zu beherrschen und Aids unsere Wahrnehmung von Sex. Die ganze Popkultur wurde greller, härter, dramatischer. Man ging zu Raves und trug Haute-Couture-Jogginganzüge. In der Kunsthalle Wien scheppern noch immer die Gläser, wie nach einer Party, wenn ein Besucher wieder an die am Boden aufgestellten Gefäße stößt (eingesammelt, gewaschen, teils manipuliert und hier in brillierender Einsamkeit inmitten der Masse arrangiert von Jason Dodge). Überhaupt riecht es seltsam, einmal scharf-chemisch, einmal nach abgestandenem Wasser (die norwegische Geruchskünstlerin Sissel Tolaas lässt hier ihre Duftversion des Wiens der 1990er versprühen). Aus mehreren fetten Boxen schallt dazu der bei Peter Rehberg und Vipra in Auftrag gegebene Elektro-Soundtrack. An den weißen Wänden klaffen aufgeklebte Wunden von Georgia Sagri, zu hoch oben, um ungläubig den Finger in sie legen zu können. In der Hallenmitte schillert am Boden eine psychedelisch schillernde, grün-gelbe Glitterwolke, als hätte der vorbeirauschende Zeitgeist hier LSD gekotzt (tatsächlich war es eine Geste von Ann Veronica Janssens).

Erstes SMS 1992: „Merry Christmas“

Neunzigerjahre-Kunst und -Memorabilia, etwa die Postkarte der Künstlerinnengruppe „Die Damen“ mit ihrer Dieser-(Robert-)Fleck-muss-weg-Persiflage und teils extra beauftragte 2000er-Kunst verschmelzen hier zu einem nicht unbedingt angenehmen Remix aus beklemmender Körperlichkeit (die am Boden trocknenden Lehm-Kleider von Anna-Sophie Berger), Sentiment (die 90er-Plakate des an Aids verstorbenen Félix González-Torres im Wiener Stadtraum, siehe Abbildung) und Zynismus des Zitats („Merry Christmas“ steht ganz nebenbei an der Wand, die erste SMS-Botschaft überhaupt, losgeschickt am 3. Dezember 1992).

Am Ende der Ausstellung hat man Kopfweh, vom Geruch. Vom optischen Kater – wo blieb eigentlich der Geschmack? Man trägt die Ausstellung jedenfalls noch ein wenig mit sich, Luca Lo Pinto sogar auf seiner Haut, für die Ewigkeit, zumindest aber nach Rom, wo er demnächst das Museum für zeitgenössische Kunst übernehmen wird.

Bis 26. Jänner, MQ, Di.–So. 11–19h. Do–21h

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2019)

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