Seebühne. Das Ufer des Gålå-Sees bildet ein natürliches
Auf Henrik Ibsens Spuren

Norwegen: Das Genie, das wegmuss

Auf Henrik Ibsens Spuren durch ein Stück Norwegen, das immer Schauplatz seiner Texte blieb. Selbst wenn der Dichter länger im Ausland lebte.

Wenn Norwegens Literatur derart im Fokus steht wie jüngst als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse, so darf man Henrik Ibsen als den wichtigsten Wegbereiter dieser Kulturnation ansehen. Mit seinen Familien- und Gesellschaftsdramen verschaffte er Norwegen einen Platz in der Weltliteratur. Sie spielen sämtlich in seiner Heimat – obwohl er diese, nach schwieriger Kindheit und mühsamen literarischen Anfängen, eigentlich nie wiedersehen wollte.

Sein Geburtsort, die Stadt Skien in der Telemark, vermittelt bis heute einen Eindruck von dem ebenso gediegenen wie geschäftigen Milieu, dem er entstammte. Hier kam er 1828 als ältestes von schließlich fünf Kindern einer Kaufmannsfamilie zur Welt. „Ich bin in einem Haus am Markt geboren. Rechts von der Kirche stand der Pranger, und links lag das Rathaus mit dem Gefängnis und dem Tollhaus. Die vierte Seite nahmen Lateinschule und Bürgerschule ein."

Gerettetes Sommerhaus. Skien liegt nicht am offenen Meer, sondern am Ende eines kleinen Fjords. Von hier aus erschließen verzweigte Wasserwege das waldreiche Hinterland, insbesondere der Telemark-Kanal. Straßen spielten in der gebirgigen Region noch Mitte des 20. Jahrhunderts eine untergeordnete Rolle, man reiste per Boot oder aber zu Fuß. Zum großen winterlichen Markt fanden sich „Taschenspieler, Seiltänzer und Kunstreiter" ein, Musikanten und Schauspieltruppen. Sie verfehlten ihre Wirkung auf den kleinen Henrik nicht. Zu Hause befehligte er ein Marionettentheater. Sein Publikum rekrutierte er aus den Geschwistern, aus Nachbarskindern und Verwandten, wobei er ebenso empfindlich wie tyrannisch sein konnte. Seine Kindheit wurde jäh erschüttert, als der Vater 1835 bankrott ging. Die Familie musste das Stadthaus aufgeben, konnte jedoch ihr Sommerhaus im nahen Venstøp halten. Umgeben von Feldern und Obstgärten, bewahrt es bis heute Ibsens Kindheitswelt. Jorunn Fure, die Leiterin des kleinen Museums, resümiert: „Das Verhältnis zwischen Skien und seinem großen Sohn war für beide Seiten schmerzlich, aber auch sehr interessant. Das Genie, das wegmuss – so hat Ibsen sich definiert."

Spielfeld. Seit 1928 gibt es das Peer-Gynt-Festival, seit 1989
Spielfeld. Seit 1928 gibt es das Peer-Gynt-Festival, seit 1989 (c) Bård Gundersen/Peer-Gynt-Festival

Das Leben als Theater. Archäologen und Kulturhistoriker stellen das Haus derzeit buchstäblich auf den Kopf. „Es ist viele Male umgebaut worden", erklärt Jorunn Fure. „Jetzt versuchen wir festzustellen, wie es damals ausgesehen hat. Wie war die Einrichtung? Wo haben sie die Küche gehabt?" Früher hätten sie hier vom ärmlichen Leben der Familie erzählt. Doch die Nachforschungen haben ergeben, dass sie sich auch nach dem finanziellen Absturz noch eines halbwegs repräsentativen Lebensstils befleißigte. Freilich um den Preis neuer Schulden. Wieder lebten sie über ihre Verhältnisse, spielten sich und ihrer Umgebung eine Wohlsituiertheit vor, die von der Wirklichkeit nicht mehr gedeckt war. Das Leben als soziales Theater, als Maskierung und Inszenierung prekärer, brüchiger Umstände – zeitlebens diente diese Grunderfahrung Ibsen als Referenz für seine Stücke.

Knarzende Stufen führen hinauf auf den Dachboden, der als Schauplatz der „Wildente" berühmt geworden ist. „Literaturwissenschaftler aus der ganzen Welt kommen hierher und küssen diesen Dachboden", amüsiert sich Fure über derlei Verehrung.

Mit den benachbarten Bauern pflegte die Familie Ibsen wenig Kontakt. „Henrik hatte bessere Kleider, er hatte eine bessere Schulbildung, und er betrachtete sich wohl als etwas Besseres. Wahrscheinlich war er ein ziemlich arrogantes Kind." Mit 15 Jahren musste er dann schon sein eigenes Geld verdienen und trat eine Apothekerlehre in Grimstad an, wo es heute ebenfalls eine kleine Gedenkstätte gibt. Mit Anfang 20 unternahm er erste literarische Gehversuche und heuerte schließlich als Hilfsregisseur am neubegründeten norwegischen Nationaltheater in Bergen an, später dann in Kristiania, dem heutigen Oslo. 1858 heiratete er die Pastorentochter Suzannah Thoresen, im Jahr darauf kam ihr Sohn Sigurd zur Welt.

Wasserweg. Der Telemark-
Wasserweg. Der Telemark-(c) Vidar Askeland/Visitnorway.com

1862 ergatterte Ibsen, damals noch ein junger Feuerkopf mit buschigem Vollbart, ein Stipendium, um Volkslieder und Geschichten zusammenzutragen. Er reiste durch das Land, über weite Strecken zu Fuß, und fragte die Leute eher unbeholfen aus. So auch im Gudbrandsdalen (Gudbrandstal), dem wichtigsten Korridor zwischen Süd- und Mittelnorwegen. Zunächst endete die Reise ohne greifbare Ergebnisse. Fünf Jahre später aber gestaltete er aus diesem Material heraus jenen Stoff, der ihn in den Olymp der Weltliteratur einziehen ließ: „Peer Gynt".

Das Enfant terrible aus den Bergen. Im Gudbrandstal fand er gleich mehrere Vorbilder für seinen Helden; jedes zweite Tal hier kennt so einen spinnerten Naturburschen, der den Mund reichlich voll nimmt und ein Schlamassel nach dem anderen anrichtet. Heute durchziehen malerische „Gyntstraßen" das Gebirge, entlang derer man „Gyntkäse" und „Gyntweine" probieren kann. In Vinstra gibt es das Grab eines „Per Gynt, 1732–1785" zu bewundern – freilich wurde es erst vor 70 Jahren überhaupt angelegt. Auf dem Kirchhof riecht es nach Gülle, und eine Elster schmettert Lachsalven durch die Luft. Ein echt Gynt’sches Arrangement zwischen Humbug und Historie.

Jo Gjende, ein kerniger Rentierjäger, der für seine Naturverbundenheit berühmt und für sein Freidenkertum berüchtigt war, gilt gleichfalls als ein Vorbild. Jedenfalls hat Ibsen mit seiner Figur geradezu den Urtypus des Outdoor-Freaks geschaffen. Was um so bemerkenswerter ist, als seine späteren Stücke fast sämtlich in bürgerlichen Interieurs spielen, deren Bewohner, um nicht zu sagen Insassen, selten auch nur vor die Tür treten.

An manchen Punkten kann man auch heute noch an seine Reise anknüpfen. So greift das Wappen der Kommune Vågå, ein springendes Rentier, Gynts berühmtestes Lügenmärchen auf, den Stunt auf dem Rentierrücken. Der Name Vågå kommt übrigens von „reisen, fahren" – altes Transitland also. Im Mittelalter verlief hier der Pilgerweg nach Trondheim, zum Grab des heiligen Olav. Eine Ahnung von der mystischen Religiosität jener Zeiten vermitteln die Stabkirchen entlang der Route, hölzerne Höhlen, schummrig und feierlich, mit Drachenköpfen, Runeninschriften und verblichenen Votivtafeln. Neben jener in Ringebu hat Ibsen gewohnt, und jene in Garmo, die besonderen Eindruck auf ihn gemacht hat, steht heute im Freilichtmuseum von Lillehammer. Auch mancher Bauernhof und manches Gasthaus, in denen er abgestiegen ist, blieben erhalten. Und natürlich die grandiose Berglandschaft, von deren Zauber selbst der Kopfmensch Ibsen nicht gänzlich unberührt blieb.

Hinterland. Die Telemark hat auch eine raue, gebirgige Seite – Wandergebiet.
Hinterland. Die Telemark hat auch eine raue, gebirgige Seite – Wandergebiet.(c) Christian Roth Christensen/Visitnorway.com

„Peer – du lügst!" Mit Peer Gynt hielt er seinen Landsleuten einen Spiegel vor. Gerade weil dieser umtriebige Bauernbursche, dieser Tunichtgut und Egoist, in allem das Gegenteil der protestantischen Ethik lebt, hat er ihre Herzen erobert.

Am Bergsee von Gålå, hoch über dem Gudbrandsdalen, wird das Stück jeden Sommer zelebriert, mit Blick über den spiegelnden See und die erhabene Naturkulisse, der dieser Stoff entstammt. Aus einer kleinen, örtlichen Initiative hervorgegangen, hat das Freilichtspektakel längst Kultstatus erlangt und zieht auch immer mehr ausländische Besucher an. Das Ufer bildet ein natürliches Amphitheater. Für die umjubelte Neuinszenierung von Marit Moum Aune wurde die Bühne unter Wasser gesetzt, sodass sie mit dem Spiegel des Sees zu verschmelzen scheint – ein magischer Effekt. Das Bühnenbild hat Snøhetta gestaltet, eines der gegenwärtig erfolgreichsten Architekturbüros der Welt, das auch die Oper in Oslo oder das neue Museum von Lascaux entworfen (und jüngst den zweiten Preis im Architektenwettbewerb für das KaDeWe in Wien gewonnen) hat. Der Name stammt von einem nahegelegenen Gipfel. Einiges vom Besten aus Norwegens Natur und Kultur kommt hier zusammen.

Ellen Horn fungierte dieses Jahr als Conferencière. Als Schauspielerin und Regisseurin hat sie Ibsens Gestalten wiederholt auf die Bühne gebracht und dann viele Jahre auch das Ibsen-Festival in Oslo geleitet. „Wir können nicht aufhören, uns mit Gynt zu beschäftigen. Die psychologischen Einblicke seines Autors wirken unvermindert stark." Horn, die auch norwegische Kulturministerin war, genießt die produktiven Widersprüche, die bis heute mit dieser Figur einhergehen: „Wie kommt es, dass der einzige Preis, den unser Parlament alljährlich vergibt, nach Peer Gynt benannt ist? Obwohl der doch ein Verlierer, ein Verräter ist, alles andere als ein Held."

Fast 3000 Zuschauer finden auf den Rängen Platz. Sie kommen und bleiben bei jedem Wetter – auch diese heroische Mentalität hat zum Mythos des Festivals beigetragen. Wobei die vergangenen Sommer dank des Klimawandels vorzüglich waren. In der Pause promenieren die Gäste am See entlang, wärmen sich an den Grillfeuern und träumen der spät sinkenden Sonne nach. Der zweite Teil geht dann bis in die Nacht hinein.

Das Publikum bietet einen breiten Querschnitt, vom örtlichen Schafzüchter über die begeisterte Theatertouristin bis zum politischen Esta­blishment. So konnte man dieses Jahr in der Menge Nato-Generalsekretär Stoltenberg ausmachen, in Begleitung, doch ohne Leibwächter und ohne jegliches Brimborium. Glückliches Norwegen.

Textbedarf.
Textbedarf. (c) Henrik Ibsen Museum

Heimkehr des verdrießlichen Sohnes. Ibsen schrieb den Peer Gynt in Rom; fast die Hälfte seines erwachsenen Lebens verbrachte er im Ausland, unbehelligt von gesellschaftlichen Rücksichten und von der geistigen Enge seiner Heimat. Zugleich aber verkehrte er dort fast nur in skandinavischen Kreisen, und ausnahmslos alle seiner Stücke handeln in und von Norwegen. Mit Vorliebe brachte er dysfunktionale Familien auf die Bühne und studierte, wie sie scheitern – ein Nachhall des nie überwundenen Dramas und Traumas der eigenen Lebensgeschichte. Ohne welcher Ibsen freilich nie Ibsen geworden wäre.

Erst als gefeierter Großschriftsteller von 73 Jahren versöhnte er sich mit dem „schwierigen Vaterland" und ließ sich gemeinsam mit Suzannah in Kristiania nieder. Die beiden bezogen eine weitläufige Etagenwohnung vis-à-vis des Schlossparks, die heute das dritte und größte Ibsen-Museum beherbergt. Mitsamt dem reichhaltigen Inventar vom Globus bis zum Tortenheber und vom Schuhlöffel bis zum Nachtgeschirr. Das schwere, großbürgerliche Interieur wirkt äußerlich sauber, doch ästhetisch verstaubt. Es war schon damals altmodisch. Wie eine Kulisse für eines seiner Stücke, und wie eine Reminiszenz an die nie wieder erfahrene Geborgenheit der ersten, noch unbeschwerten Kinderjahre in Skien.

Hier schrieb Ibsen, hochgeachtet und doch ungeliebt, seine letzten Werke. Im nahen Kaffeehaus nahm er seine mittägliche Ration zu sich: ein Glas Aquavit, einen Humpen Spatenbräu und einen Stapel Zeitungen in Norwegisch, Dänisch und Deutsch. Nach mehreren Schlaganfällen musste er dann die letzten Jahre bei häuslicher Pflege verbringen. Und schenkt man seiner Witwe Glauben, so ging er in der Wohnung auch nach seinem Tod 1906 noch um. Selbstverständlich im Arbeitszimmer.

Infos

Anreise: Ab Oslo zweieinhalb Fahrstunden nach Südwesten bis Skien und ungefähr vier bis Grimstad. Nach Norden fährt man ebenfalls etwa vier Stunden bis Vinstra im Gudbrandstal oder an den Gålå-See.

Unterkunft: Bø Hotell: Patentes Sporthotel mit beheiztem Freibad, dessen Besitzer sich auch sehr für Kultur engagiert. In Bø im Herzen der Telemark gelegen. Visitbo.no/bohotell

Venabu Fjellhotell: Gemütliches Refugium hoch über dem Gudbrandsdalen, sympathischer Familienbetrieb, ganzjährig ein Genuss. www.venabu.no

Ibsen-Museen: Skien: www.telemarkmuseum.no
Grimstad: www.visitnorway.de/
Oslo: Ibsens letzte Wohnstätte wird derzeit umgestaltet und soll 2021 wieder eröffnen.

Peer-Gynt-Festival: Das Festival am Gålå-See findet alljährlich Anfang August statt. Rechtzeitige Reservierung ist erforderlich. www.visitnorway.de

Compliance: Die Reise wurde zum Teil von Visit Norway unterstützt.

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