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30 Jahre Mauerfall: Geschichte als Geschichten

Die Wochen rund um das magische Datum 9. November 1989 zeigen: Es gibt zwar nicht unzählige, aber doch sehr viele Wege, sich dem großen Thema „30 Jahre Mauerfall“ anzunähern.

Analysen, Interviews, tolle Fotostrecken. Aber wenig macht Geschichte so greifbar wie eine Geschichte. Wenn sich das große Ganze in einem Schicksal, in einem konkreten Detail widerspiegelt.

Berlin-Korrespondent Jürgen Streihammer erzählt in dieser Ausgabe auf zwei Arten vom Ende der DDR. Die erste Geschichte beginnt so: „Wieland Herrmann wollte Boxer werden. Sein bester Freund, Ronny, wollte Gewichtheber werden. Aber an diesem Freitag im September 1988 will Herrmann nur, dass Ronny nicht stirbt.“

Streihammer schildert die DDR durch die Augen eines jugendlichen Profiboxers, der eigentlich aus einer kommunistischen Paradefamilie stammt, aber in Ungnade fällt, nach einem gescheiterten Fluchtversuch im Gefängnis landet und vom Mauerfall erst mit vier Tagen Verspätung erfährt.

Auch für seinen zweiten Beitrag hat sich Streihammer durch (allzu) menschliche Details gearbeitet: Protokolle, Tonaufnahmen und Bilder der Stasi, die das Verhältnis Österreichs zur DDR beleuchten: „Am 9. Mai 1989, um 10.21 Uhr, ruft ein Mann ,mit schwachem sächsischen Dialekt‘ in der österreichischen Botschaft in Ostberlin an. Seinen Namen nennt er nicht. Er hegt nämlich den Verdacht, dass ,die Apparate der Botschaft abgehört werden‘.“

So beginnt der Text, und um es kurz zu machen: Der Mann hatte recht. Denn obwohl die Beziehungen der DDR zu Österreich eng waren, hielt dies die Stasi nicht vom hemmungslosen Spionieren ab – Klischees inklusive. Streihammer zeichnet etwa die Aktion „Wiesenglück“ nach. Ein Mitarbeiter der Botschaft („Herz“) sollte mittels Tête-à-Tête am Waldesrand erpressbar gemacht werden. Alles war geplant, doch man scheiterte. An der „Lustlosigkeit“ des Zielobjekts. So Alltag kann Geschichte sein. uw

ulrike.weiser@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.11.2019)

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