Gedankenlese

30 Jahre nach dem Umbruch 1989: Was ist alles schiefgelaufen?

Timothy Garton Ash ist wieder durch Mittelosteuropa gereist. Er erhofft sich eine zweite Welle der Befreiung.

Es gibt in der angloamerikanischen Welt wohl keinen fleißigeren und profunderen Erklärer des mittelosteuropäischen Zeitgeschehens als Timothy Garton Ash. Seit der Spätzeit des kommunistischen Ostblocks reist der Brite zwischen Berlin und Budapest, Warschau und Prag hin und her, machte sich unzählige Bürgerrechtler zu Freunden und Gesprächspartnern und lieferte dann erstklassige Zeitzeugenberichte über den Sturz der kommunistischen Regime im Lauf des Jahrs 1989 durch Volksaufstände beziehungsweise durch Verhandlungen am runden Tisch ab.

Heuer ist Garton Ash, inzwischen Professor für Europastudien an der Universität Oxford, wieder durch die mittelosteuropäischen Hauptstädte gereist, hat alte Demokratieaktivisten und aufstrebende junge Intellektuelle getroffen – und suchte angesichts der innenpolitischen Entwicklungen in Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik eine Antwort auf die bange Frage: Was ist in den vergangenen 30 Jahren schiefgelaufen? In der jüngsten Ausgabe der „New York Review of Books“ (24. Oktober) fasst er in einem langen Aufsatz seine Erkenntnisse in der für den angloamerikanischen Journalismus so typischen Ich-Form zusammen.

Er selbst habe ja schon 1990 nicht ausgeschlossen, dass Mittelosteuropa wieder eine Zone schwacher Staaten, nationaler Vorurteile, der Ungleichheit und Armut – kurz: zu einem Schlamassel werden könnte. So schlimm ist es bei Weitem nicht gekommen, Wirtschaftswachstum und Wohlstandsgewinn in der Region waren in den vergangenen drei Jahrzehnten doch mehr als beachtlich. Aber ja, vieles hat sich völlig anders entwickelt als erwartet. Gerade Ungarn und Polen haben in den vergangenen Jahren einen völlig anderen Kurs eingeschlagen, als von diesen beiden Vorreitern des demokratischen Umbruchs einst erwartet worden war.

Und ja, es gibt die Probleme, die Garton Ash kenntnisreich analysiert: Dass die Auswanderung das wahre Problem vieler mittel- und südosteuropäischer Länder ist und nicht die von dortigen Regierungen als Schreckgespenst an die Wand gemalte Einwanderung; dass die einstigen Kommunisten zu Gewinnern von Restitution und Privatisierung wurden, was nach wie vor für böses Blut sorgt; dass viele Fehlentwicklungen wie der nationalistische Populismus, die Faktenverweigerung oder die Denunzierung des Liberalismus, in Westeuropa und den USA genauso ausgeprägt sind wie in den neuen Demokratien, die in Autokratien zu mutieren drohen; dass das Gefühl der historischen Ungerechtigkeit teilweise gerechtfertigt ist; dass das kapitalistische System vielerorts mit brachialer Gewalt eingeführt wurde, ohne allen Bürgern den nötigen Respekt und die Sorge um ihr Wohl entgegenzubringen; dass die neuen Demokratien nach 1989 in der westlichen Welt nicht überall mit offenen Armen willkommen geheißen wurden und dort auch heute mancherorts alte Vorurteile über den zurückgebliebenen, unaufgeklärten Osten wieder aufgewärmt werden.

Reichlich banal fallen dann freilich Garton Ashs Antworten auf die Frage aus, was Mittelosteuropa jetzt brauchen würde: Keine Revolution, schreibt er, sondern eine große Reform und eine zweite Welle der Befreiung. Er setzt dabei auf eine neue Generation von Reformern, die sich dem Beharrungsvermögen und der Korruption der herrschenden reaktionären Eliten und der breiteren Gesellschaft entschlossen entgegenstellen. No na net, kann man dem Oxfordprofessor da auf gut Wienerisch nur entgegenhalten.

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

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