Gastkommentar

Politischer Paukenschlag in Thüringen und die Folgen

(c) Peter Kufner
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Der Ausgang der Landtagswahlen im ostdeutschen Thüringen stellt eine Zäsur für das Parteiensystem in Deutschland dar.

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Wer große Worte wählt, muss vorsichtig sein. Aber der Wahlausgang in Thüringen stellt in zweierlei Hinsicht für das Parteiensystem eine Zäsur dar. Die sechste Serie der Landtagswahlen in den neuen Bundesländern endete mit einem Paukenschlag. Wer diese Entwicklung vor 30 Jahren prophezeit hätte, wäre ob der Kühnheit der Aussagen belächelt worden.

Zum ersten Mal erreichte Die Linke den ersten Platz in einem Bundesland. Zwar wurde Rot-Rot-Grün abgewählt, aber die Partei Bodo Ramelows erzielte im thüringischen Freistaat mit 31 Prozent nicht nur das beste Ergebnis ihrer Geschichte, sondern auch mehr Stimmen als CDU und SPD zusammen (30 Prozent).

Damit ist eine Art Gesetzmäßigkeit durchbrochen worden: Immer dann, wenn die PDS bzw. Die Linke eine Koalition als Juniorpartner der SPD eingegangen war, rutschte sie bei der nächsten Wahl massiv ab: 2002 in Mecklenburg-Vorpommern, 2006 in Berlin, 2014 in Brandenburg. Diesmal konnte Die Linke mit Ministerpräsident Ramelow, der bei der thüringischen Bevölkerung als über den politischen Parteien stehender Landesvater überwiegend gut ankam, dagegen um 2,8 Punkte zulegen. Dann und wann wahrte er in der Legislaturperiode sogar Abstand von der eigenen Partei. Auf seinen Wahlplakaten prangte selten der Schriftzug „Die Linke“.

Randparteien als „neue Mitte“

Und zum ersten Mal erreichten die Randparteien – bezogen auf die politische Richtung, nicht auf das Wahlergebnis – Die Linke und die Alternative für Deutschland (AfD) im Land der geografischen Mitte Deutschlands eine absolute Mehrheit (54,4 Prozent). Sie sind damit, formal gesehen, die „neue Mitte“.

Konnte bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt im März 2016 eine Mandatsmehrheit der AfD und der Partei Die Linke durch den Einzug der Grünen in das Parlament knapp verhindert werden, so erhielten diese Parteien jetzt eine negative Mehrheit. Sie weisen damit deutlich mehr Stimmen auf als die Parteien der „alten Mitte“ CDU, SPD, Grüne und FDP (40,2 Prozent).

Die Linke unter dem Pragmatiker Ramelow ist wohl nirgends so gemäßigt wie in Thüringen, die AfD unter dem Ideologen Björn Höcke nirgends so radikal wie in diesem Freistaat. Obwohl selbst Kritiker aus den eigenen Reihen ihm Personenkult vorwarfen, kam die AfD auf 23,4 Prozent, fast so viel wie in Brandenburg (23,5 Prozent) und Sachsen (27,5 Prozent).
Gleichwohl sind wir von „Weimarer Verhältnissen“ weit entfernt. Damals hatten die NSDAP und die KPD bei den beiden Reichstagswahlen 1932 eine absolute Mehrheit. Die AfD und Die Linke sind jedoch nicht mit den beiden totalitären Kräften auf eine Stufe zu stellen. Und: AfD und Die Linke kamen jetzt zwar in einem Bundesland auf eine absolute Mehrheit, aber bundesweit kann davon nicht annähernd die Rede sein. Außerdem ist die politische Kultur im Gegensatz zur ersten deutschen Demokratie insgesamt gefestigt.

Mit dem jeweils schlechtesten Ergebnis – von Platz eins auf Platz drei – stürzte die CDU (21,8 Prozent) unter Oppositionsführer Mike Mohring an der Spitze nun ebenso ab wie die SPD unter ihrem Spitzenkandidaten Wolfgang Tiefensee, dem Wirtschaftsminister des Landes und früheren Bundesverkehrsminister. Beide Parteien verloren etwa jede dritte Wählerstimme.

Die CDU, die zwischen 1990 und 2014 immer den Ministerpräsidenten gestellt und zweimal die absolute Mehrheit erreicht hatte, wurde zwischen der AfD und der Partei Die Linke zerrieben. Die SPD kam auf ganze 8,2 Prozent, nach Sachsen (7,7 Prozent) das schwächste Ergebnis seit 70 Jahren.

Gegenwind aus dem Bund

Die herben Verluste der beiden Parteien sind neben dem Amtsbonus für Bodo Ramelow wesentlich bundespolitisch bedingt: Das schlechte Erscheinungsbild der Großen Koalition mitsamt der internen personellen Querelen erwies sich für die CDU und SPD nicht als Rückenwind. Und nun dürfte das Thüringer Ergebnis Gegenwind für die Große Koalition im Bund erzeugen. Deren vorzeitiges Ende durch die SPD ist wahrscheinlicher geworden, zumal dann, wenn sich das Gespann Walter-Borjans/Esken bei der Stichwahl gegen Olaf Scholz und Klara Geywitz durchsetzt.

Wie soll es in Thüringen weitergehen? Das politisch und das arithmetisch Machbare klaffen auseinander. Die Regierungsbildung ist extrem schwierig. Am ehesten bietet sich eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung an. Ob sie von Fall zu Fall überhaupt Unterstützung findet? Einen Versuch ist es wert, denn direkte Neuwahlen wären ein Armutszeugnis. Mehrheiten müsste die Regierung sich von Fall zu Fall einmal bei dieser Oppositionspartei, einmal bei jener Oppositionspartei beschaffen. Erfurt ist nicht Berlin. In einem Bundesland sind Minderheitskoalitionen erträglich, auch wenn es ihnen an Stabilität fehlen mag.

Drohende Grabenkämpfe

Eine Minderheitskoalition bedeutet keineswegs die feste Tolerierung durch eine Partei außerhalb des Regierungsbündnisses. Und eine Zweierkoalition (Die Linke und die CDU) ist ebenso strikt zu verwerfen wie eine Viererkoalition (Die Linke, SPD, Die Grünen und FDP), ja, jegliche Kooperation der Union wie der FDP mit der Partei Die Linke. Während die Liberalen dies so sehen, scheint der thüringische CDU-Spitzenkandidat, Mike Mohring, zu lavieren. Das ist in höchstem Maße kritikwürdig.
Erstens würde die Glaubwürdigkeit massiv leiden, hatten CDU und FDP zuvor doch ein Bündnis mit der Partei Die Linke ohne Wenn und Aber ausgeschlossen. Sie wollten diese von der Macht ablösen, ohne ein Hintertürchen offen zu halten.

Zweitens passt eine solche Konstellation politisch ganz und gar nicht zusammen. Auf der einen Seite stehen Sozialisten, die die DDR nicht als „Unrechtsstaat“ ansehen, auf der anderen Kräfte, die klar antisozialistisch sind.

Drittens würde eine Kooperation der CDU mit den Linken die Union zerreißen. Grabenkämpfe brächen aus, Spitzenpolitiker im Westen ließen dies nicht zu. Und im Osten fühlte sich mancher an die Zeiten der CDU-Blockpartei erinnert. Auch wenn Mohring zurückzurudern beginnt: Er war wohl zum letzten Mal Spitzenkandidat.

CDU leidet an zu viel Konsens

Viertens schwächte die CDU mit einem Kurswechsel die demokratische Streitkultur. Diese leidet an zu viel Konsens, der Stickigkeit produziert. Der Kampf aller gegen einen ist weder fair noch erfolgreich. Im Gegenteil: Die AfD profitierte als geächteter Außenseiter vermutlich davon.

Es wäre endlich Zeit, rhetorisch gegen diese Partei auf allen Seiten abzurüsten und Sachargumenten den Vorrang zu geben. Ein entspannterer Umgang mit der populistischen Kraft mag den etablierten Kräften anzuraten sein. Die praktizierte Stigmatisierung weist schädliche Folgen für das Meinungsklima auf, und schrille Wählerbeschimpfung ist ein Armutszeugnis. Wer dies kritisiert, verteidigt den demokratischen Verfassungsstaat, nicht die AfD.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Prof. Dr. Eckhard Jesse (* 1948 im sächsischen Wurzen) hatte von 1993 bis 2014 einen Lehrstuhl im Fach Politikwissenschaft an der TU Chemnitz inne. Er war Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (2007–2009) und ist seit 1989 Herausgeber des Jahrbuchs „Extremismus & Demokratie“. Zahlreiche Publikationen.

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