Jeden Montag präsentiert die „Nationalökonomische Gesellschaft“ in Kooperation mit der „Presse“ aktuelle Themen aus der Sicht von Ökonomen. Heute: Jörn Kleinert über fehlende Orientierung.
Der Oktober hatte es in sich: Ex-EZB-Präsident Draghi’s letzte Zinssenkung war kaum verdaut, da hielt uns der Brexit mal wieder in Atem, in Chile sorgte eine Fahrpreiserhöhung der städtischen U-Bahnen um vier Cent für starke Unruhen, die Türkei marschiert in Nordsyrien ein und droht damit syrische Flüchtlinge als Waffe gegen die EU einzusetzen und in Thüringen wählte der Souverän einen Landtag, der nur Ausdruck einer ganz tiefen Spaltung der Gesellschaft in diesem deutschen Bundesland sein kann. Die Aufzählung ist weit entfernt davon vollständig zu sein. Katalonien zum Beispiel ist noch nicht einmal dabei.
Die EZB hat ihren Leitzinssatz noch einmal gesenkt. Nicht, dass der nicht schon negativ gewesen ist. Wie der Transmissionsmechanismus ist, ist zwar weiter unklar, aber die EZB will sich der heraufziehenden Krise entgegenstemmen. Acht Jahre Krisenmodus hat Ex-Präsident Draghi hinter sich und sicher einiges erreicht. Aber wie geht es weiter? Der EZB Rat war erstmals richtig gespalten. Nicht nur die murrenden Deutschen, diesmal waren es mehrere Mitglieder, die nicht recht überzeugt sind, dass dieser Weg der Richtige ist. Eine brauchbare Alternative aber hat niemand formuliert. Es nur unbedingt anders zu machen, dafür ist die Situation noch nicht ausweglos genug.
Der ökonomische Blick
Jeden Montag gestaltet die „Nationalökonomische Gesellschaft" (NOeG) in Kooperation mit der "Presse" einen Blog-Beitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften.
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Die Brexit-Situation schon. „Nur raus“ scheint im Augenblick das Ziel zu sein, was angesichts einer quälend langen Trennungsphase auch sehr verständlich ist. Und dann? Dann wird man im Vereinigten Königreich die Beziehungen zu den ausländischen Partnern neu verhandeln müssen. Das wird dauern. In der Zwischenzeit werden sich wirtschaftliche Strukturen anpassen müssen, was mit hohen Kosten verbunden sein wird. Schwieriger aber noch als die neuen Beziehungen nach außen wird die Neujustierung der Gesellschaft im Inneren. Welche wirklichen Probleme wird der Brexit dann gelöst haben? Das Gängelband der EU, an das man sich gekettet fühlt, wird definitionsgemäß weg sein, aber was genau hat sich dann geändert? Wir werden sehen. Sicher ist nur, dass sich die Unzufriedenheit ein anderes Ventil wird suchen müssen.
In Chile war es eine Fahrpreiserhöhung, in Frankreich die Einführung einer Mineralölsteuer. Wichtiger als den Anlass wäre es, die Ursachen zu kennen. Da sind wir aber noch nicht sehr weit. Und ohne die Ursache zu kennen wird es schwer ein Lösungsangebot zu formulieren. Dass das Problem der Unzufriedenheit zwar in national gefärbter Ausprägung, aber dann doch zumindest OECD-weit auftritt, lässt eine größere Ursache vermuten als Politikerversagen.
Als Wirtschaftswissenschaftler denkt man zuerst an eine ökonomische Ursache. Ist es die Ungleichheit, die tatsächlich zugenommen hat, die Globalisierung, die in den letzten Jahrzehnten einiges an Veränderungen erzwungen hat, die Digitalisierung, über deren Auswirkung wir noch nicht so viel wissen, die Entwicklung hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft, die einen sich wieder verstärkenden Zentrum-Peripherie Gegensatz hervorbringt oder etwas anderes?
»Nur auf die makroökonomischen Zahlen geschaut, ist die allseits greifbare Unzufriedenheit schwer zu verstehen.«
Nur auf die makroökonomischen Zahlen geschaut, ist die allseits greifbare Unzufriedenheit schwer zu verstehen. Das pro-Kopf-Einkommen ist so hoch wie noch nie, die Arbeitslosigkeit gering und eher der Fachkräftemangel ein Problem, die letzte Krise gut überstanden und die Unternehmen gut in die internationale Arbeitsteilung eingebunden. Sogar ein Budgetüberschuss hat Österreich vorzuweisen. Bildung ist unentgeltlich, das Gesundheitssystem in Takt. Abgesehen von den ökonomischen Kennzahlen: es gibt kaum ein Land oder eine Region mit der man als Österreicherin oder Österreicher tauschen möchte. Woher also kommt die Unzufriedenheit?
Sicher ist nur, dass die derzeitige institutionelle Ausgestaltung nicht mehr auf unsere Gesellschaft passt. Das zu ändern wird den traditionellen Parteien - voran der Sozialdemokratie - nicht mehr zugetraut. Das ist in anderen europäischen Ländern sicher noch stärker ausgeprägt als in Österreich. In Thüringen sind die deutschen Volksparteien CDU und SPD zusammen noch auf 30% der Wählerstimmen gekommen. Sicher ist das für deutsche Verhältnisse extrem, aber immer noch weniger drastisch als die Implosion des französischen Parteiensystems. Als relativ stabil zeigen sich derzeit einzig die eher autokratischen national-konservativen Parteien in Mittel- und Osteuropa, denen dort wohl am ehesten ein Schutz vor weiteren, großen Anpassungen und ständigen Änderungen in dieser schnelllebigen Welt zugetraut wird.
Der EU jedenfalls wird die Rolle des Initiativgebers von Veränderungen diesmal nicht zufallen. Das ist insofern problematisch als dass der gemeinsame Markt und die gemeinsame Währung Fakten schaffen, die für die institutionelle Ausgestaltung aller Mitgliedstaaten von besonderer Bedeutung sind. Sie erzwingen Lösungen, die zwangsläufig eine supra-nationale Komponente enthalten (sollten). Die Mitgliedsländer können gar nicht frei entscheiden. Einige der Probleme sind direkte Konsequenz der europäischen Integration. Sie sind nur auf europäischer Ebene lösbar. Die derzeitige politische Situation lässt eine erfolgreiche EU-Initiative zu institutionalen Änderungen aber nicht erwarten.
Der November bringt den 30. Jahrestag des Mauerfalls. Vielleicht hilft der Abgleich der Träume und Erwartungen von damals mit dem Erreichten ja, uns für die nächsten Aufgaben etwas Orientierung zu geben.
Der Autor
Jörn Kleinert (* 1970 in Berlin) ist Professor für Internationale Ökonomik an der Universität Graz. Er ist Vorstand des Instituts für Volkswirtschaftslehre an der Universität Graz und amtiert derzeit als Generalsekretär der Nationalökonomischen Gesellschaft (NOeG).