Mit Federn, Haut und Haar

Eh alles paletti? Ein Plädoyer für mehr Zukunftsrealismus

Wenn heute Ökonomen meinen, die Erde hätte eine Tragekapazität von mindestens elf Milliarden Menschen, dann ist das bestenfalls naiv.

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Seit mich Thomas Kramar 2006 für die „Presse“ rekrutierte, fühle ich mich als stolzer Hobbykolumnist der besten Tageszeitung Österreichs sehr wohl. Was nicht bedeutet, dass ich immer mit ihren Inhalten glücklich wäre, etwa der Ausgabe zum Nationalfeiertag (26./27. 10.). Einerseits toll, wenn man mit Positivmeldungen zum Zustand der Welt und Österreichs den Optimismus unterstützen und die Mieselsucht bekämpfen will. Aber ein wenig differenzierter hätte es schon sein dürfen. Es ist keine seriös-ausgeglichene Berichterstattung im Sinn der Aufklärung, nicht auch über die mit vielen positiven Entwicklungen verbundenen Kosten für Umwelt und letztlich Menschen zu berichten; das grenzt an neoliberale Manipulation. Die positiven Schlagwortgeber waren der Schriftsteller Johan Norberg, der Linguist Steven Pinker und der Statistiker Ola Rosling, die alle (zu Recht) darauf beharren, man solle nicht einfach über den Zustand der Welt jammern, sondern sich an die Fakten halten. Das tun sie dann auch, allerdings in einer teilweise recht manipulativen Art. Wenn etwa Rosling meint, dass „bloß“ fünf Prozent des weltweit erzeugten Plastiks in den Weltmeeren landet – und damit das Problem heillos überschätzt sei – erwähnt er nicht, dass seine läppischen fünf Prozent viele Quadratkilometer große Teppiche in Pazifik und Atlantik bilden, die Strände und Meeresböden der Welt vermüllen, Lebensräume vernichten und mit ihnen viele Meerestiere. Ein Ökologe würde darauf hinweisen, dass dieser Prozentwert angesichts der verursachten katastrophalen Wirkungen eigentlich irrelevant ist.

In diesem Tonfall geht es weiter. So lernen wir, dass der Prozentsatz der Kinder mit Pflichtschulabschluss weltweit seit 1972 von etwa 75 auf 90 % stieg. Schon, aber im Zeitraum verdoppelte sich auch die Anzahl der Weltbevölkerung auf 7,6 Milliarden; die Anzahl der Kinder ohne Schulbildung blieb also in etwa gleich. Auch über eine Verringerung der Kinderarbeiter von 1960 bis 2012 von 25 % auf 11 % kann man sich freuen, allerdings blieb auch hier die Anzahl der betroffenen Kinder in etwa gleich. Damit sollen Erfolge nicht geschmälert, wohl aber soll dazu geraten werden, der scheinbaren Objektivität von Zahlen gegenüber vorsichtig zu bleiben.

Weil mit der Bildung der Mädchen Geburtenraten sinken, ist sie tatsächlich der Schlüssel zur Rettung der Biosphäre. Denn wenn heute Ökonomen meinen, der alte Thomas Malthus wäre widerlegt und die Erde hätte eine Tragekapazität von mindestens elf Milliarden Menschen, dann ist das bestenfalls naiv, wahrscheinlich aber bewusst manipulativ gemeint. Sie wollen offenbar nicht sehen, dass die Ernährung so vieler Menschen nicht nachhaltig möglich ist. Heute schon vernichtet die Produktion von Nahrungsmitteln Lebensräume, trägt zu bedrohlichen Klimaveränderungen bei.

Schon möglich, dass zukünftige technologische Entwicklungen dazu beitragen werden, viele Probleme zu lösen, aber Vorsicht vor allzu viel Sorglosigkeit! So wurde Peak Oil trotz aller pessimistischen Prognosen der vergangenen Jahrzehnte vor allem deswegen noch nicht erreicht, weil Tiefseebohrungen und Fracking die geförderten Ölmengen steigern. Den Preis dafür zahlt aber direkt die Umwelt, also Mensch und Biosphäre. „There is no free lunch“, auch wenn manche Techniker, Ökonomen und Medien das gern hätten. Mehr zu einer realistischen Weltsicht in zwei Wochen.

Kurt Kotrschal, Verhaltensbiologe i. R. Uni Wien, Wolf Science Center Vet-Med-Uni Wien, Sprecher der AG Wildtiere/Forum Wissenschaft & Umwelt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2019)

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