So förderte die Kirche den Individualismus

Die Kirche tat sich nicht unbedingt als Förderin des freien Individuums hervor.
Die Kirche tat sich nicht unbedingt als Förderin des freien Individuums hervor.(c) imago stock&people
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Im Mittelalter schwächte die Kirche die Sippenbande – machte auch das den Westen so erfolgreich?

„Weird“ ist nicht nur ein englischer Ausdruck für „sonderbar“, sondern im Psychologensprech auch ein Akronym für die westliche Welt („western educated industrial rich democratic“). Dass diese seit der Neuzeit so erfolgreich war, hat viel mit dem Siegeszug des Individuums zu tun – und dieser auch mit dem christlichen Menschenbild. Die Kirche selbst freilich tat sich dennoch nicht unbedingt als Förderin des freien Individuums hervor.

Oder doch? Auf eine gewisse Weise schon, meinen US-amerikanische und kanadische Forscher in der Studie „The church, intensive kinship and global psychological variation“ (Science, 8.11.). Und zwar indirekt, indem die Kirche im Mittelalter die starken Bindungen innerhalb der Sippe schwächte, der Verwandtschaft im weitesten Sinn (kinship).

So suchten die Wissenschaftler unter Jonathan Schultz zum Beispiel in den Archiven des Vatikans nach Daten über die Zahl der Vetternehen, um herauszufinden, wie intensiv die Sippenbande waren. Sie erforschten auch die kirchliche Familienpolitik, die die eheliche Bindung zwischen Mann und Frau betonte: Die vielen Dekrete über die Ehe, so eine These, hätten systematisch die ausgedehnten, auf breite Verwandtschaft gründenden Familiennetzwerke durch kleinere Einheiten ersetzt.

Kirche versus Zoroastrier

Als Gegenbeispiel geben die Forscher das Beispiel der Zoroastrier in Persien an. Dort wurden Ehen zwischen nahen Verwandten im Gegenteil verherrlicht und ermutigt. Auch die Ablehnung der Polygamie durch die Kirche spielt hier eine Rolle, da Polygamie starke Abhängigkeiten zwischen Ehefrauen und Halbgeschwistern erzeugt.

Für 440 europäische Regionen erhoben die Forscher, wie lang sie unter dem Einfluss der Westkirche oder aber der Ostkirche waren (Letztere trat der Vetternheirat weniger entgegen). Sie haben einen „Kinship Intensity Index“ entwickelt. Außerdem griffen sie auf aktuelle psychologische Erhebungen über Individualismus und Unabhängigkeit, Konformismus und Gehorsam sowie prosoziales Verhalten zurück.

Das Ergebnis, so die Forscher: „Wir zeigen, dass Länder, die historisch länger der mittelalterlichen westlichen Kirche ausgesetzt waren oder weniger starke Sippenbande (Vetternehen) hatten, individualistischer und unabhängiger sind, weniger konformistisch und gehorsam, und mehr dem Vertrauen und der Zusammenarbeit mit Fremden zugeneigt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2019)

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