Urlaub mit Kind

Von Dover bis Alnwick: Ohne Fußballspielen taugt das tollste Schloss nichts

Kreidefelsen von Dover
Kreidefelsen von DoverImago
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Klippen, Burgen, Kathedralen: Südengland bietet auch Kindern jede Menge Spaß. Nur im Wochenendhaus der Königin gelten strenge Regeln.

Hunderte Schiffswracks liegen vor der Küste Dovers auf dem Meeresgrund, Fischerboote, Kriegsschiffe, Ozeandampfer. Sogar Überreste aus der Bronzezeit wurden gefunden. Viele Schiffe sanken bei Schlachten, häufiger aber waren Nebel, Stürme und schlechte Navigation die Ursache von Havarien. So steht es auf einem Schild zu lesen. Unheimlich sei das, findet unser Sohn, aber auch spannend, genauso wie der sehr schmale Klippenpfad. Nur ein paar Büsche trennen uns vom Abgrund. Oben pfeift der Wind, unter uns lärmt der Hafen.

Für uns ist es eine ganz neue Perspektive. Bislang sahen wir die weißen Kreideklippen von Dover stets von der Fähre aus. Am Horizont ist klar die Küste Frankreichs zu erkennen. Im Ärmelkanal herrscht Hochbetrieb, ein halbes Dutzend Fähren ist unterwegs. Von den Schiffbrüchen der Vergangenheit ist indessen nichts zu sehen. Das Wrack der Preußen, das bei Fan Bay aus dem Wasser ragt, ist von hier nicht auszumachen. Das deutsche Handelsschiff kenterte 1910, nachdem es wegen falscher Geschwindigkeitsberechnung die englische Brighton gerammt hatte.

Der Nutzen der Mathematik ist eben nicht zu unterschätzen; auch das lehrt der Klippenspaziergang. Wie bei so vielen ikonischen Bauten und Landschaften im Königreich sorgt der National Trust mit Parkplätzen, Teestube, Mülleimern und Informationen dafür, dass Freizeitgestaltung und Wissensvermittlung in geordneten Bahnen ablaufen. Hundebesitzer finden hier ebenso eine Checkliste für den Aufenthalt auf den Klippen wie Besucher mit wenig Zeit. Auch wer nur ein Stündchen vor Sonnenuntergang zur Verfügung hat, soll den Geist der Kreidefelsen einfangen können. Sie seien Sinnbild für Heimat in guten, für Verteidigung in schlechten Zeiten, aber eben auch ein Wandergebiet, das großartige Aussichten mit Natur und Geschichte verbindet. Nur klettern kann man nicht, dafür sind die Klippen zu gefährlich.

Städte sind meist langweilig

Irgendwann müssen wir zurück, weil sonst unser Auto auf dem Parkplatz eingesperrt wird. Dummerweise wollen die Eltern noch in Canterbury vorbeischauen. Zwar sind Städte meist langweilig – aber hier gibt es immerhin eine sehr alte Kathedrale, in der Szenen des ersten Harry-Potter-Films gedreht werden sollten. Leider klappte das nicht, weshalb das Gotteshaus, mit dessen Bau im Jahr nach dem Siegeszug Wilhelms des Eroberers begonnen wurde, stark an Bedeutung verliert.

Dennoch ist Canterbury recht schön, die Stadt ist klein, ihre Gassen sehen mit sehr alten Häusern, deren erste Etagen über dem Erdgeschoß hervorragen, cool aus: Krumm und schief wie in Hogsmeade, auch wenn die Giebel nicht so spitz sind wie in dem Dorf nahe der Zauberschule Hogwarts. Durch einen prachtvollen Torbogen, der selbst aussieht wie eine Kirche, betreten wir das Gelände. Am Eingang hören wir Gesang: Es ist Evensong, eine gesungene Messe. Tatsächlich ist diese Kathedrale richtig toll, stellen wir innen fest. Es ist schwer zu glauben, dass die Säulen, Bögen und Verzierungen im Inneren aus Stein geformt sind, sie sehen geschmeidig und glatt aus wie Kuchenteig.

Wir könnten auch einmal länger in Dover bleiben, erklärt das Kind auf dem Rückweg. Die Klippen gefallen ihm sehr, Canterbury ist annehmbar, und es ist schön, nach der Überfahrt gleich am Ziel zu sein. Außerdem gibt's Burgen. Dover Castle haben wir uns früher schon einmal angeschaut, daher nehmen wir uns morgen eine andere Burg vor: die im 16. Jahrhundert erbaute Tudor-Festung Walmer Castle. Im Graben, der die offizielle Residenz des Warden of the Cinque Ports umschließt, wächst dichtes Gras. Hinter der Burg erstrecken sich sogar bespielbare Rasenflächen. Was es mit dem Lord Warden auf sich hat, erfahren wir innen: Er ist Repräsentant des Monarchen in den Cinque Ports, einer Gruppe von ursprünglich fünf Hafenstädten an der Südküste. Seit 1708 hat er hier seinen Amtssitz. Zu den Amtsträgern zählen die erstaunlichsten Leute: der Herzog von Wellington, der Napoleon in Waterloo besiegte, in Walmer Castle starb und dessen Stiefel hier ausgestellt sind; der Staatsmann Winston Churchill, dessen spieltaugliches und sehr schönes Anwesen Chartwell wir vor ein paar Jahren besuchten; sogar die Mutter der heutigen Königin. Das alles erfahren wir durch Audioguides. Konzentriert hört das Kind sich alles an und besichtigt jedes einzelne Gemach. Erst dann erforschen wir die Gärten, die mit Rasenflächen zum Spielen und Picknicktischen genau so sind, wie England sein soll.

Die Königsgräber

Dagegen kann Windsor Castle einpacken. Denn im knapp tausendjährigen Wochenendhaus der Queen und Heim von 39 Monarchen gibt es keinen öffentlich zugänglichen Garten oder Park. Schlimmer noch: Am Eingang, wo wir durchleuchtet werden wie auf dem Flughafen, muss der Knabe seinen im Rucksack verstauten Fußball abgeben. Doch ein Schloss, auf dessen Grünflächen man nicht Fußball spielen kann, hat im Grunde wenig Sinn. Lustig ist dafür der Wachtposten, der in einem Holzhäuschen steht und reglos zur St. George's Chapel blickt. Ab und zu verlässt er es, marschiert einmal auf und ab und zieht sich dann wieder in sein Häuschen zurück. Er erinnert uns an eine Szene im Film „Paddington“, allerdings ist dieser Guardsman diszipliniert und verfüttert keine Sandwiches an Bären. Er blinzelt nicht einmal, wenn Touristen sich ohne zu fragen mit ihm fotografieren lassen.

In der St. George's Chapel betrachten wir Königsgräber. Der schwierige Heinrich VIII., der glücklose Stuart-Monarch Charles I., der sein Haupt verlor, sowie diverse Georges, unter ihnen der Vater der heutigen Königin, sind hier bestattet. Während die Mutter Fürsten der Häuser Plantagenet, York und Hannover einzuordnen versucht und der Vater in einer Kirchenbank umstürzlerischen Gedanken nachhängt, springt das Kind hin und her, um auf keine Grabplatte zu treten. Kapelle sei übrigens nicht der richtige Ausdruck, bemerkt es, dies sei mindestens eine Kirche, wenn nicht gar ein Dom. Toll sind die Stühle der Ritter des Hosenbandordens. Über jedem hängt ein Banner, an der Rückwand sind Helm und Schwert befestigt, auf Tafeln stehen die Namen derer, die hier im Lauf der Jahrhunderte ihren Platz hatten. Denn dem Orden gehören neben Monarch, Thronfolger und anderen Mitgliedern der Königsfamilie nur 24 Ritter an, und erst, wenn einer stirbt, wird ein neuer aufgenommen. Die Königin und der Prinz von Wales haben eigene kleine Logen, cool.

„Man sieht gar nicht, dass hier Leute wohnen“, stellt der Nachwuchs in den Staatsgemächern fest. Ganz anders als in Alnwick Castle, dem zweitgrößten bewohnten Schloss Englands nach diesem hier. Dort oben in Northumberland bewunderten wir einst Möbel, Familienfotos, Spielzeug und eine offenbar rege genutzte Hausbar, von den tollen Spielplätzen gar nicht zu reden. „Hier darf wohl nur Prinz George spielen“, beschwert sich unser Kind. Aber nicht mit unserem Ball. Den holen wir am Eingang wieder ab. Keine vierzig Kilometer entfernt finden wir mit Hatchlands Park einen Ort, an dem alles stimmt. Im einstigen Stall des georgianischen Landsitzes ist eine Bibliothek eingerichtet, im Hof können wir Esel streicheln. Zum Park, der bereits im „Domesday Book“ Wilhelms des Eroberers Erwähnung gefunden hat, gehört auch Weideland. Große, zottelige Kühe grasen hier. Bestimmt ist da noch ein Zaun, überlegen wir, doch die Tiere trotten vor uns und hinter uns über den Pfad, wie es ihnen gefällt. In einem kleinen Wald ist der neu gestaltete Naturspielplatz versteckt. Er besitzt holzgeschnitzte Fabelwesen, ein Spielhaus mit Tunnel, Tipis, Totempfahl, einen Balancierparcours und ein Baumhaus.

Sogar das Herrenhaus ist spannend. Am Eingang bekommt das Kind Arbeit. Mit Schreibbrett, Stift und Blättern wird es losgeschickt, um in jedem der im 18. Jahrhundert für Admiral Edward Boscawen und seine Frau, Fanny, ausgestatteten und aufwendig restaurierten Gemächer Tiere und Gegenstände aufzuspüren. In jedem Raum stehen zudem historische Klaviere und Pianofortes. 42 sind es insgesamt, darunter Instrumente aus dem Besitz von Mozart, Chopin und Bizet. Und das Beste: Vor dem Haus erstreckt sich eine riesige Wiese, auf der Hüpfbälle bereitliegen. Fußballspielen ist erlaubt.

BURGEN UND BALLSPIELEN

Walmer Castle: Im Sommer ist die in Deal gelegene Burg tägl. von 10–17 Uhr geöffnet. Im März öffnet sie Mi–So von 10–16 Uhr, im Oktober Sa–Mi von 10–16, von November bis Februar nur am Wochenende, 10–16 Uhr. english-heritage.org.uk

Windsor Castle: Das größte bewohnte Schloss der Welt liegt in Windsor in der Grafschaft Berkshire und ist von März bis Oktober täglich von 10–17.15 Uhr und von November bis Februar von 10 bis 16.15 Uhr geöffnet. Bei royalen Anlässen wird es für die Öffentlichkeit geschlossen, www.rct.uk

Übernachten: Ohne individuellen Charme kommen die Hotels der Kette Premier Inn aus, die dafür dicht über die Insel verteilt, gut ausgestattet und für Familien sehr preiswert sind. Zwei Kinder unter 16 Jahren schlafen kostenfrei im Zimmer der Eltern; premierinn.com.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2019)

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