Auf Schiene

Interrail: Klimarettung mit Komfort

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Warum eine Interrail-Tour durch Europa zwar das Klima, nicht aber die Nerven schont und trotzdem die beste Art des Reisens bleibt.

Kurz nach der kroatischen Grenze drosselt der Zug sein Tempo auf eine so schildkrötenhafte Langsamkeit herab, man könnte jetzt einfach heraushüpfen und der Lok mühelos vorauslaufen, immer weiter – bis zum nächsten Flughafen. Zwölf Stunden dauert die Fahrt bereits, zwölf Stunden wie zäher Honig.

In dieser Zeit hätte man schon in Kapstadt, Los Angeles oder Singapur sein können. Doch Flugscham hat zurzeit Hochsaison. Um so CO2-neutral wie möglich zu reisen, sind Ferien nach Zugfahrplan angesagt. Einen Monat lang soll es mit dem Interrail Global Pass für Erwachsene kreuz und quer durch sieben Länder Europas gehen, und zwar in der ersten Klasse. Klimarettung geht vielleicht auch mit Komfort. So weit der Plan.

Doch die Schweizer Bundesbahn (SBB), Streberin in Sachen Pünktlichkeit und Serviceperfektion, enttäuscht schon vor dem ersten Abfahrtspfiff. Statt eines erstklassigen Panoramawagens mit überdurchschnittlich großen Fenstern wartet in Zürich ein betagter Waggon, der aus dem Ruhestand zurückbeordert wurde. „Sie wollen doch nicht schwitzen beim Schauen“, scherzt der Schaffner, um den Einsatz des alten Ersatzwagens mit dem Ausfall einer Klimaanlage zu rechtfertigen. Mit dem Schauen wird es nichts. Fast alle Fensterscheiben sind blind, weil sich im Zwischenraum der alten und undichten Doppelverglasung eine milchige Schicht gebildet hat. Sehr viel ersichtlicher als die vorbeiziehenden grauweißen Silhouetten der Schweiz ist deshalb die Frage, ob die 893 Euro für das Interrailticket erster Klasse wirklich gut investiert sind. Im Nachbarland schließt dieser Preis auch endlich Aussicht mit ein. Vor dem Fenster präsentieren österreichische Kulissenschieber ausgedehnte Berg-, Seen- und Wasserfall-Landschaften, dann übernehmen die slowenischen Kollegen. Berge und Ortschaften werden kleiner, die Flusstäler lieblicher.

Wolken fliegen wie im Zeitraffer über pastellgrünes Gras, und Felder voller Kohl und Paprika. Lauter bühnenbildhafte Idyllen, die auf eine so unheimliche Art beruhigend wirken, dass man glatt wieder nervös werden könnte. Am slowenischen Grenzbahnhof Dobova – Schengen-Außengrenze! – ist dann endlich Action angesagt. Wie ein Sondereinsatzkommando vor der Hauserstürmung reißt dort eine Vorhut von Bahnbeamten alle Abteiltüren auf und kündigt zackig das Erscheinen der „Kommandanten“ an. Der slowenische Grenzpolizist und seine kroatische Kollegin, die sich kurz darauf zweimal Interrailticket und Ausweis zeigen lassen, könnten ihr einschüchterndes Auftreten durchaus noch beim KGB trainiert haben. Sich über viele Grenzen Europas frei und ohne jegliche Grenzkontrolle bewegen zu können ist für die meisten Menschen so normal, dass sie es für eine Selbstverständlichkeit halten.

Ist es aber nicht, und das ruppige Intermezzo in Dobova zeigt, wie es zugehen würde, wenn es die Zusammenarbeit der Staaten im Schengen-Raum nicht mehr gäbe. Reisen wäre unberechenbarer und zeitraubender. Die strenge Kontrolle an der kroatischen Grenze dauert fast länger als die Weiterfahrt nach Zagreb, aber die Geduld wird schließlich mit einer Ankunft im Zentrum der Stadt belohnt. Das ist einer der größten Vorteile des Zugreisens – nach Erreichen des Ziels ist man sofort mittendrin und nicht erst am Gepäckband.

Zeitgenössischer Alltagsirrsinn

Der Geruch von Eisenstaub und Coffee-to-go liegt in der Luft der Bahnhofshalle, und alle sind sie da – die Eiligen und die Flanierer, Junge und Alte, Müde und Wache, die Brötchen-Schmiererin ebenso wie der Lottoschein-Annehmer, die Bauarbeiter mit den auffälligen Tätowierungen, gehetzte Anzugträger, parfümierte Damen und frisch gewickelte Babys.

Die Unmittelbarkeit, mit der man am Ziel einer Zugreise in die Realität der fremden Stadt eintauchen kann, darf als Entschädigung für die Mühen und Plagen des Bahnfahrens gewertet werden. Ganz oben auf der Top-Ten-Liste der größten Zumutungen dieser Interrail-Tour steht das Aroma aus Mottenpulver und altem Mann, das durch das Abteil wehte, als der Sitznachbar seine weit gereisten Socken auszog. Der nächste Großraumwagen war olfaktorisch akzeptabel, aber auch akustisch lässt sich stinken: Großfamilien, mit Jumbotüten knackfrischer Paprikachips im Gepäck. Geschäftsleute, die auf der Tastatur ihrer Laptops das Morsealphabet der Wichtigtuer klappern, und Frauen mit Spottdrosselstimmen, die stundenlang effektvoll in ihre Smartphones quatschen.

Jedes Zugabteil ist eine kleine Galerie für zeitgenössischen Alltagsirrsinn mit eindrücklichen Klanginstallationen und stündlich wechselnden Ausstellungen. Nach einigen Stunden Bahnfahrt klingt jeder krachende Biss in einen unschuldigen Apfel wie eine Kriegserklärung. Jetzt einfach irgendwo aussteigen und die Fahrt später fortsetzen. Klappt leider nicht. Der Riegel, den Interrail vor die Spontanität geschoben hat, heißt Reservierungspflicht, und die kann extrem teuer werden. Sie gilt nicht in allen Interrail-Ländern, sondern vornehmlich in solchen, die besonders beliebt sind und es nötig machen, das Passagieraufkommen in den Schnellzügen über die Preise zu steuern.

Reise nach Jerusalem

Spanien flog wegen der horrenden Reservierungskosten umgehend aus dem Reiseplan, und in Frankreich empfiehlt es sich, häufiger auf Nebenstrecken auszuweichen, wenn man Kosten sparen möchte. Netter Fun Fact: Weil viele Passagiere dennoch reservieren, die französische Bahn SNCF aber darauf verzichtet, die gebuchten Sitze kenntlich zu machen, gestaltet sich die Suche nach einem freien Platz in etwa so witzig wie das Spiel „Reise nach Jerusalem“ mit 100 Kindern und fünf freien Stühlen.

Dann doch lieber ausweichen in den Speisewagen. Einen Ort, der seine Gäste schon allein dadurch beglücken kann, dass es Kaffee gibt, der ausnahmsweise nicht nach Metall und Entkalker schmeckt und der das Wohlgefühl ins Grenzenlose steigert, wenn keine Kartoffelaufwärmer, sondern richtige Köche zu kulinarischer Hochform auflaufen. Im Waggon Slovakia der Slowakischen Eisenbahn ZSSK von Wien nach Košice brutzelt das Schnitzel noch immer in der Pfanne, und auf einigen Strecken durch Irland servieren sie im Dining Car ein frisch zubereitetes Full Irish Breakfast samt Black Pudding, saftigem Schinken und Spiegelei.

In vielen anderen Speisewagen landen leider Fertigprodukte aus der Mikrowelle auf dem Teller. Optisch wirken Pulled Pork Burger und Hendlbrust der Cateringfirmen, die die ÖBB beliefern, so synthetisch wie frisch aus dem 3-D-Drucker gezogen und schmecken auch so. Viel schlimmer als schlechtes Essen ist allerdings der Ausfall eines Zugs. Der kann eine lange Kette fallender Dominosteine aus verpassten Anschlusszügen und verfallenden Hotelreservierungen bedeuten und einen zwingen, sich während der gesamten Tour immer wieder mit Reiseplanänderungen zu beschäftigen. Wer früh morgens startet, um genügend Alternativverbindungen ohne Reservierungspflicht nutzen zu können, und Hotels bucht, die noch bis zum Tag der Anreise stornierbar sind, erspart sich viel Schererei.

Kostenlose Fähren

Angesichts all dieser Ärgernisse kann man sich schon einmal fragen: Wäre Fliegen nicht vielleicht doch schöner? Aber ist das wirklich eine Alternative? Schließlich sind Verspätungen bei einigen Airlines noch zuverlässiger als bei der Bahn. Die Besinnlichkeit einer fast leeren Abfertigungshalle von Irish Ferries in Cherbourg verscheucht jeden Gedanken an das Fliegen dann auch gründlich. Interrail-Pässe beinhalten die kostenlose oder ermäßigte Nutzung verschiedener europäischer Fähren und Schiffe. Mit Irish Ferries kommt man von Frankreich und von Wales nach Irland. Im französischen Cherbourg sind Check-in und Boarding in zehn Minuten erledigt.

Es gibt keine Slalomläufe durch Duty-Free-Shops, und statt sich eingezwängt in der Economyclass eines Fliegers wie Frachtgut transportieren zu lassen, schließt man die Tür seiner Kabine und genießt vom überraschend bequemen Bett den Blick auf ein tintenblaues Meer und das perlmuttfarbene Schimmern vorbeifliegender Möwen. Der Fensterrahmen hält die Szene für Augenblicke fest und macht es zu einem Bild – eines von Tausenden, die während dieser Reise entstanden sind. Bilder von Bäuerinnen am Feldweg, die mit rot karierten Taschentüchern dem vorbeifahrenden Zug winken, von eisvogelblauen Seen und kleinen Dörfern, von maulwurfschwarzen Tunneln, bonbonrosafarbenen Schlafwagenabteilen und kanariengelben Wiesen im ersten Sonnenlicht des Morgens. Das Bildersammeln endet nach rund 6000 Kilometern und dem Besuch von sieben Hauptstädten – Bern, Ljubljana, Zagreb, Bratislava, Wien, Paris und Dublin, dazu einige kleinere Städte und Dörfer. Das war Europa im kaleidoskopischen Schnelldurchgang. Es brauchte Wochen, um all die Sehenswürdigkeiten dieser schönen Orte anzuschauen, die man laut Tourismusbroschüre auf keinen Fall verpassen darf. Bei Zeitmangel ist der Zufall aber der bessere Reiseführer.

In Ljubljana hat er zum Freiluftkonzert in den Tivoli-Park geführt, in Wien zu den sündhaft guten Himbeerschnitten der Bäckerei Auer, in Dublin zum Poolbeg Lighthouse und in Zagreb zu den Gaslaternenanzündern in die Oberstadt. Bern und Bratislava wurden auf gemächlichen Bummeltouren erkundet, und nur im von Hitze geplätteten Paris – der Klimawandel lässt grüßen – reichte die Kraft zu nichts anderem, als die Füße im Brunnen zu baden.

Nach Effizienzkriterien bemessen lautet das Fazit dieser Reise: Es wurde zehnmal so viel Zeit und mindestens doppelt so viel Geld investiert wie für Flüge zu den gleichen Zielen. Doch gemäß Verbraucherportal ecopassenger.org konnte der verursachte CO2-Ausstoß im Vergleich zu Flugreisen immerhin um 50 Prozent reduziert werden. Nur noch halbe Klimasünder also, aber trotzdem ganz und gar vom Interrail-Reisen überzeugt. Was zu Beginn der Reise nämlich noch nervtötend und langweilig schien, erweist sich am Ende als dringend nötige Lektion: Einfach sitzen und schauen – einmal mit Noise-Cancelling-Kopfhörern, meist ohne – und sich über die Zeit freuen, die man im Alltag nie zu haben glaubt und die man sich Zug um Zug zurückerobert hat.

31 Länder

Interrail: Ist ein Ticket zum Pauschalpreis, mit dem Reisende in vielen europäischen Ländern in einem bestimmten Zeitraum beliebig oft mit dem Zug fahren können. Seit Abschaffung der Altersgrenze 1998 kann jeder mit Wohnsitz in Europa eine Interrail-Fahrkarte für insgesamt 31 Teilnehmerländer kaufen.

Ticketarten: Es werden zwei Arten von Tickets angeboten – der Global Pass und der One Country Pass. Mit dem Global Pass kann man in allen 31 Interrail-Ländern reisen, perfekt für eine Europa-Rundreise. Es gibt ihn für verschiedene Reisezeiträume zwischen drei Tagen und drei Monaten. Der One Country Pass gilt dagegen immer nur in einem Land. Beide Varianten gibt es sowohl für die zweite Klasse als auch für die erste Klasse.

Kosten: Die Tarife richten sich nach der gewählten Passart, der Reiselänge und dem Alter der Reisenden. Jugendliche (bis 27 Jahre), Erwachsene (28 bis 59 Jahre) und Senioren (ab 60 Jahre). Bis zu zwei Kinder im Alter zwischen vier und elf reisen kostenlos mit. Nicht inbegriffen sind Reservierungen für Sitzplätze oder Schlafwagen in Nachtzügen.

Preisbeispiele 2019: Der Global Pass für einen Monat in der zweiten Klasse kostet 667 Euro für Erwachsene und 512 Euro für Jugendliche. Der One Country Pass für Italien in der zweiten Klasse ist für Erwachsene ab 127 Euro und ab 105 Euro für Jugendliche erhältlich. Bei Rabattaktionen werden Tickets regelmäßig zu ermäßigten Preisen angeboten. Die Tickets kann man bis zu elf Monate vor dem ersten Gültigkeitstag am Bahnhofsschalter kaufen. Einfacher geht es online auf www.interrail.eu

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2019)

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