30 Jahre Mauerfall

Als die Mauer in „Little Berlin“ fiel

30 Years Since The Fall Of The Berlin Wall: Remnants Of The Fortified DDR Border
30 Years Since The Fall Of The Berlin Wall: Remnants Of The Fortified DDR Border(c) Getty Images (Sean Gallup)
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Auch durch den 50-Einwohner-Ort Mödlareuth zog sich ein Betonwall. Er stürzte erst mit Verspätung ein. Vom DDR-Irrsinn in einem kleinen Dorf.

Mödlareuth hat Weltgeschichte geschrieben. Eine Weltstadt ist es nicht. Der Handyempfang versagt hier. Der Ort liegt inmitten eines Funklochs. Und er ist winzig. Weniger als eine Minute dauert die Autofahrt vom Anfang bis zum Ende des Bauerndorfs, von Ortsschild zu Ortsschild. 48 Einwohner zählt Mödlaureuth. Dazu kommen noch Gänse, Hühner, Enten, die kreuz und quer über eine eingezäunte Wiese irren. Und mitten durch den Ort fließt ein Bach. Er ist schmal und führt kaum Wasser, weshalb man sich gar nicht vorstellen kann, dass dieses Rinnsal über Jahrzehnte die Dorfgemeinschaft zerrissen hat, selbst Brüder getrennt hat, ja Staatsgrenze und damit auch Systemgrenze zwischen dem kapitalistischen Westen und dem sozialistischen Osten gewesen ist.

Wie sonst nur in der Hauptstadt hat die DDR eine 700 Meter lange Betonmauer mitten durch das Bauerndorf gezogen. Das idyllische Mödlareuth, eingebettet in eine hügelige Landschaft aus Wald und Wiesen, war Schauplatz des Kalten Kriegs. „Little Berlin“ nannten die Amerikaner den Ort, den neulich auch US-Außenminister Mike Pompeo besuchte.

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Und das liegt auch an diesem kleinen Tannbach. Er trennte schon im 19. Jahrhundert das Königreich Bayern und das Fürstentum Reuß. Bis heute ist er Bundesländergrenze. Der größere Teil Mödlareuths (30 Einwohner) zählt zur Stadt Gefell im ostdeutschen Thüringen, der kleinere zu Töpen in Bayern.

Reste der Mauer in Mödlareuth, aufgenommen verngangenen September.
Reste der Mauer in Mödlareuth, aufgenommen verngangenen September.(c) Getty Images (Sean Gallup)

Ein Bach trennte zwei Welten

Alles ist anders, wenn man den Tannbach überschreitet: die Telefonvorwahl, die Autokennzeichen, der Bürgermeister, die Wassergebühren, selbst die Grußformeln. Auf der bayerischen Seite sagt man „Grüß Gott“, auf der Thüringer „Guten Tag“, erzählt eine Ortsbewohnerin.

Berlin zelebriert am Samstag 30 Jahre Mauerfall. In Mödlareuth tat sich am Abend des 9. November 1989 aber nichts. Arnold Friedrich war damals Bürgermeister im bayerischen Teil. Er sah die Bilder aus Berlin und fuhr sofort in sein Mödlareuth. Er dachte: „Vielleicht sitzt da ja auch schon jemand auf der Mauer.“ Aber auf dem Areal, das die Grenzsperranlagen „taghell ausgeleuchtet“ hatten, war niemand.

Geheime Codes an der Grenze

Als dann endlich auch in Mödlareuth die Mauer fiel, lag schon Schnee. Eine Bewohnerin erzählt, dass ihr Hund Bubi als Erster über den geöffneten Grenzübergang gelaufen sei. Es gab dann an jenem 9. November 1989 viel Blasmusik. Bayerisches Bier. Thüringer Bratwürste. Schnaps. Umarmungen. Und Tränen. So hat es Altbürgermeister Friedrich in Erinnerung. Im Deutsch-Deutschen Museum Mödlareuth zeigen sie ein Video von damals. Friedrich hat es schon „100 bis 200 Mal“ gesehen. „Aber an der Stelle, an der ich den Bürgermeister vom anderen Teil Mödlareuths empfange, habe ich jedes Mal wieder Tränen in den Augen.“

Der große Kalte Krieg spiegelte sich in den Jahrzehnten davor hier in vielen kleinen Schicksalen. Jenes zweier Brüder geht besonders nah. „Die beiden wohnten 100 Meter voneinander entfernt“, sagt Friedrich. Aber jede Kontaktaufnahme über die Mauer war den Mödlareuthern im Ostteil strengstens untersagt. Selbst ein kleiner Wink, ein kurzes „Hallo“ wurde geahndet. „Die Brüder haben dann aber eine Anhöhe gefunden, die für DDR-Grenzsoldaten nicht einsehbar war, und dort dann fast täglich über eine Zeichensprache Kontakt gehalten.“ Erst als Rentner durften sie sich dann gegenseitig besuchen.

Es gab viele geheime Codes im geteilten Mödlareuth. Hob ein Bewohner des Ostteils die Mütze und tat so, als würde er sich Schweiß von der Stirn wischen, war dies als Gruß an den Westteil gedacht. Die Mödlareuther waren im Bilde, was auf der anderen Seite der Mauer passierte. Da hat Altbürgermeister Friedrich keine Zweifel. „Trugen alle Trauerkleidung, und man hat die Oma länger nicht mehr gesehen, wusste man, dass sie gestorben war. Tauchte Babykleidung auf der Wäscheleine auf, war klar, dass es Nachwuchs gegeben hatte.“

Ein Bach trennte zwei Welten
Ein Bach trennte zwei Welten(c) Getty Images (Sean Gallup)

„Dann war Feierabend“

Beim Streifzug durch Mödlareuth trifft man einen älteren Mann in Arbeitskluft. Man versteht ihn zunächst kaum, weil er einen schweren oberfränkischen Dialekt spricht. Er ist jedenfalls West-Mödlareuther. Zur Schule ging er aber drüben im Osten, in Thüringen. Doch dann ging es eines Tages „zack, zack“. „Dann war Feierabend“, sagt er. Der Grenzübergang, also sein Schulweg, war gesperrt. Ein Abschlusszeugnis der Volksschule hat er deshalb bis heute nicht.

Das war 1952. Denn in Mödlareuth wurde die Grenze nicht nur später geöffnet, sondern auch früher geschlossen, neun Jahre vor dem Berliner Mauerbau. Anfangs durchschnitt nur ein Bretterzaun den Ort. Doch dann rüstete die DDR am Grenzstreifen immer weiter hoch. Es sah hier wirklich aus wie in Berlin. Wachtürme und auch ein 100 Meter langes und 3,30 Meter hohes Mauerstück bezeugen nach wie vor die Teilung Mödlareuths, das heute nicht nur Bauern-, sondern auch Museumsdorf ist. Robert Lebegern leitet dieses Deutsch-Deutsche Museum. Er kam kurz nach der Wende, 1992, hierher. Damals entsprach noch vieles dem Klischee. Der Osten des Orts sah grauer aus als der Westen, erinnert er sich. Trabis standen dort in den Einfahrten, es gab keine Satellitenschüsseln, und man roch die verheizte Braunkohle – die Spuren der DDR sozusagen.

Jürgen Streihammer

Inszenierte Fluchtversuche

Lebegern hat sich durch die Stasi-Unterlagen zu Mödlareuth gegraben: Vier inoffizielle Mitarbeiter arbeiteten demnach in den Jahrzehnten vor der Wende dem Geheimdienst zu. Und zwei Mödlareuther gingen freiwillig auf Streife im Grenzbereich.

Ein russischer Panzer als Ausstellungsstück im  Deutsch-Deutschen Museum Mödlareuth.
Ein russischer Panzer als Ausstellungsstück im Deutsch-Deutschen Museum Mödlareuth.(c) Getty Images (Sean Gallup)

Das DDR-Regime hatte entlang der innerdeutschen Grenze eben viele freiwillige Helfer. Es setzte die Grenzbewohner aber auch permanent unter Druck. Lebegern erzählt von inszenierten Fluchtversuchen, mit denen die DDR testen wollte, wer seiner Berichterstattungspflicht nachkam. Und er schildert das Schicksal eines Gastwirts, der seine Konzession verlor, nur weil er einen ortsfremden Mann in seinem Lokal nicht gemeldet hatte, der später flüchtete.

Als wäre nichts gewesen

Nach der Wende wuchs Mödlareuth rasch wieder zusammen. Silvester 1990 feierten sie schon zusammen, als wäre nichts gewesen. Doch wenn alles so glatt lief, wieso wurde dann Mödlareuth auf Verwaltungsebene nie vereint? Eine Erklärung lautet: In der Brust der Bewohner schlagen zwei Herzen. Sie fühlen sich als Mödlareuther, aber auch als Bayer oder Thüringer, weshalb niemand das Bundesland wechseln will. Aber davon sollte man sich nicht in die Irre führen lassen, meint Altbürgermeister Friedrich: „In Mödlareuth hat die Wiedervereinigung am besten funktioniert.“

Ein Grenzstein in Mödlareuth - 30 Jahre danach.
Ein Grenzstein in Mödlareuth - 30 Jahre danach.(c) Getty Images (Sean Gallup)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.11.2019)

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