Vor dem Pariser Strafgericht muss sich Ex-Trader Kerviel für Spekulationsverluste verantworten. 2008 brach das Kartenhaus zusammen, die Société Générale musste für fast fünf Milliarden Euro Verluste geradestehen.
Paris. Beim Roulette gilt die Faustregel, dass die Bank am Ende immer gewinnt. Auch beim großen Prozess, der gestern in Paris vor dem Strafgericht begonnen hat, steht der Angeklagte einer Bank gegenüber, in diesem Fall seinem ehemaligen Arbeitgeber. Der Ausgang ist noch ungewiss, der Einsatz ist jedoch sehr hoch: Dem früheren Trader Jérôme Kerviel, 33, drohen bis zu fünf Jahre Haft wegen Betrugs und Untreue. Für die Bank geht es um ihr Image.
Der Vergleich zwischen den Spekulationen eines Traders, mit denen sich nun die Richter in Paris befassen müssen, und dem Glücksspiel im Casino ist alles andere als an den Haaren herbeigezogen. Wer das Buch liest, das der Ex-Trader zu seiner Verteidigung und Rechtfertigung geschrieben hat, wird den Eindruck bekommen, dass da sehr ähnliche Regeln und Verhaltensweisen existieren. Nur behauptet Kerviel, er habe weniger für seinen eigenen Gewinn gespielt als einfach seinen „Job“ gemacht – und sei nun das Opfer eines Systems und seiner Spielsucht geworden.
Aufs Ganze gegangen
Er sollte mit zum Teil riskanten Termingeschäften für seinen Arbeitgeber, die französische Großbank Société Générale, Geld verdienen. Und das gelang ihm in den ersten Jahren so gut, dass er im „Delta One“-Raum, wo die Aufträge per Internet oder Telefon erteilt werden, fast zum Vorbild wurde. Zum Schluss ging er aufs Ganze, sein Einsatz auf dem „Spieltisch“ des Handels mit Derivaten (im konkreten Fall ging es vor allem um die Entwicklung von Aktienindizes) betrug mit 50 Milliarden das Eineinhalbfache der Eigenmittel seiner Bank.
Ende 2008 brach das spekulative Kartenhaus zusammen, die Société Générale musste für fast fünf Milliarden Euro Verluste geradestehen. Aus dem bewunderten Trader wurde über Nacht eine Unperson. Er wurde per Haftbefehl gesucht, der nach der Entdeckung des Milliardenlochs zurückgetretene Bankchef Daniel Bouton bezeichnete ihn gar als „Terroristen“. Denn für die Société Générale ist Kerviel allein für diese Rekordverluste verantwortlich, weil er die Regeln missachtet, Angaben zur Umgehung von Kontrollen gefälscht und seine Vorgesetzten hintergangen habe.
Das Bild des fotogenen „Milliardenbetrügers“, der eine vage Ähnlichkeit mit Schauspieler Tom Cruise besitzt, zierte Anfang 2009 die Titelseiten der Weltpresse.
In Wirklichkeit ist er ein ziemlich scheuer und nicht sehr geselliger Mensch, den seine Mitarbeiter als Streber betrachteten und mit dem wenig schmeichelhaften Spitznamen „Mister Nobody“ bedachten.
Vor dem Richter steht ein verbitterter Mann, der das Gefühl hat, er müsse nun seinen Kopf für ein aus den Fugen geratenes System hinhalten. Kerviel, der inzwischen für ein Monatsgehalt von 2300 Euro in einer Informatikfirma arbeitet, hofft auf einen Freispruch. Mithilfe seiner Anwälte, die Überraschungen im Prozess versprechen, möchte er beweisen, dass seine Vorgesetzten, die damals zum Teil nur drei Meter von ihm entfernt saßen, durchaus wissen konnten und mussten, dass Kerviel seine Limits bei Weitem überschritt.
Bank als „Zuhälter“
Er bezichtigt die Bank der Heuchelei und vergleicht seinen Ex-Arbeitgeber mit einem Zuhälter, der seine Trader zum Anschaffen auf den Strich schicke. In dieser Konfrontation mit der mächtigen Bank steht Kerviel allein. Für seine ehemaligen Kollegen ist er ein „Loser“. Wer zu viel riskiert, kann in diesem gnadenlosen Business nicht mit Pardon rechnen.
Kerviel ist bereits in die Geschichte eingegangen – als Symbolfigur einer Generation von Händlern, die in einer Art Spielsucht immer größere Risken eingingen. Zumindest indirekt muss sich bei diesem Betrugsprozess auch die Großbank für ihre offensichtlich ungenügenden Kontrollmechanismen verantworten. Sie ist deswegen von der französischen Bankenaufsicht getadelt und mit vier Mio. Euro Buße bestraft worden.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2010)