Gastkommentar

Wie umgehen mit Russland, dem Land im Niedergang?

(c) Peter Kufner
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Amerika sollte sich nicht auf dem Niedergang Russlands ausruhen und dieses als zweitrangige Macht behandeln.

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Der Kreml hat einen Lauf. Unter Präsident Wladimir Putin hat Russland in Syrien den Platz der USA eingenommen, und es interveniert weiterhin in der Ost-Ukraine und hat kürzlich einen Afrika-Gipfel in Sotschi ausgerichtet. Manchmal jedoch trügt der Schein. Zwar stimmt es, dass Russland weiterhin über ein enormes Atomarsenal verfügt, das dem der USA an Größe gleichkommt, dass es 2008 in Georgien und 2014 in der Ukraine wirksam Gewalt eingesetzt hat, dass es militärische Unterstützung geleistet hat, um Baschar al-Assads Regime in Syrien zu retten, und dass es Cybermethoden genutzt hat, um die Wahlen in den USA und anderswo zu stören. Doch kann Russland lediglich als internationaler Störenfried agieren. Hinter der Abenteuerpolitik verbirgt sich ein Land im Niedergang.

Der sowjetische Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow prahlte 1959, die Sowjetunion würde die USA bis 1970 oder 1980 überholen. Stattdessen brach die Sowjetunion 1991 zusammen und hinterließ ein deutlich geschrumpftes Russland: mit drei Vierteln des Staatsgebiets der UdSSR, der Hälfte ihrer Bevölkerung, der Hälfte ihrer Wirtschaftskraft und einem Drittel ihres Militärpersonals. Russlands BIP liegt bei bloßen 1,7 Billionen Dollar (USA: 21 Billionen Dollar). Die sowjetische Volkswirtschaft war 1989 doppelt so groß wie die chinesische; heute beträgt Russlands BIP ein Siebtel von dem Chinas. Zudem ist Russland stark von Energieexporten abhängig, und Hightech-Produkte machen lediglich 11% seiner Exporte an Fertigungswaren aus (USA: 19%).

Während Sprache, Geschichte und Arbeitsmigration Russland in seiner unmittelbaren Nachbarschaft eine gewisse Soft Power verleihen, sehen nur wenige Ausländer sich anderswo russische Filme an, und keine der russischen Universitäten rangiert in den weltweiten Top 100. Die politischen Institutionen für eine effektive Marktwirtschaft fehlen weitgehend, und dem von Räuberbaronen geprägten Staatskapitalismus fehlt es an jener Art wirksamer Regulierung, die Vertrauen schafft. Das öffentliche Gesundheitssystem ist schwach, und die durchschnittliche russische Lebenserwartung von 72 Jahren (für Männer und Frauen zusammen) liegt fünf Jahre unter der in Europa. Demografen der Vereinten Nationen prognostizieren, dass die russische Bevölkerung bis Mitte des Jahrhunderts von heute 145 Millionen auf 121 Millionen schrumpfen könnte.

Es sind viele unterschiedliche Zukunftsvarianten möglich, doch gegenwärtig ist Russland eine „ökonomische Monokultur“ mit korrupten Institutionen und schwerwiegenden demografischen und gesundheitlichen Problemen. Ex-Präsident Dmitri Medwedew hat Pläne zur Überwindung dieser Probleme vorgelegt, doch es wurde kaum etwas davon umgesetzt. Während sich Putin, was die Wiederherstellung von Russlands Präsenz auf der Weltbühne angeht, als erfolgreicher Taktiker erwiesen hat, war er als Stratege bei der Bewältigung der langfristigen Probleme seines Landes nicht erfolgreich. Eines von seinen erfolgreichen taktischen Manövern war die Anlehnung an China. Nachdem er wegen seines Angriffs auf die Ukraine mit westlichen Sanktionen belegt wurde, erklärte Putin China zu „unserem wichtigsten strategischen Partner“. Im Gegenzug bezeichnete Präsident Xi Jinping Putin als „meinen besten Freund und Kollegen“.

Ziemlich beste Freunde

Eine derartige Reaktion auf die Macht der USA ist im Rahmen einer traditionellen Politik des Gleichgewichts der Kräfte zu erwarten. In den 1950er-Jahren waren China und die Sowjetunion gegen die USA verbündet. Nach Nixons Öffnung gegenüber China 1972 arbeiteten die USA und China zusammen, um die sowjetische Macht zu begrenzen. Diese gemeinsame Ausrichtung endete mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion; 1992 erklärten Russland und China ihre Beziehungen zur „konstruktiven Partnerschaft“. Daraus wurde 1996 eine „strategische Partnerschaft“, im Juli 2001 unterzeichneten beide einen „Freundschafts- und Kooperationsvertrag“. Sie haben im UN-Sicherheitsrat eng zusammengearbeitet und ähnliche Positionen in Bezug auf die internationale Kontrolle des Internets eingenommen, und sie haben verschiedene diplomatische Konstrukte – etwa die BRICS-Gruppe und Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit – genutzt, um ihre Positionen aufeinander abzustimmen. Inzwischen teilen sie nicht-nukleare Militärtechnologie miteinander und führen gemeinsame Militärmanöver durch.

Trotzdem bestehen ernste Hürden in Bezug auf ein enges chinesisch-russisches Bündnis. Ein Rest an Argwohn bleibt. Kein Land verleibte sich im 19. Jahrhundert mehr chinesische Gebiete ein als Russland, und die derzeitige demografische Lage im Fernen Osten – mit sechs Millionen Russen, denen auf der anderen Seite der Grenze inzwischen mehr als 120 Millionen Chinesen gegenüberstehen – ist für Moskau ein Quell der Beunruhigung.

Der wirtschaftliche Niedergang Russlands hat dessen Sorgen über den Aufstieg Chinas verstärkt. Während der Handel zugenommen hat, hinken die Investitionen hinterher, und unter Chinas Exportmärkten rangiert Russland nur an zehnter Stelle. Wie jüngst der „Economist“ vermeldete, sorgt sich Russland, zum Juniorpartner des Bündnisses zu werden, der stärker von China abhängig ist als umgekehrt. Amerika jedoch sollte sich nicht auf dem Niedergang Russlands ausruhen und dieses als zweitrangige Macht behandeln. Schließlich sind im Niedergang begriffene Mächte – wie etwa Österreich-Ungarn 1914 – tendenziell weniger risikoavers: Sie haben weniger zu verlieren als aufstrebende Mächte. Russland stellt noch immer eine potenzielle Bedrohung für die USA dar, und zwar weitgehend deshalb, weil es das einzige Land mit ausreichend Raketen und Atomsprengköpfen ist, um die USA zu vernichten.

Auch im Niedergang besitzt Russland eine enorme Fläche, eine gebildete Bevölkerung, kompetente Wissenschaftler und Ingenieure und riesige Rohstoffvorkommen. Es scheint unwahrscheinlich, dass Russland noch einmal über die Ressourcen verfügen wird, um ein Gegengewicht zur Macht der USA zu bilden, so wie das die Sowjetunion vier Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg tat. Doch aufgrund seiner verbleibenden atomaren Stärke, seiner Öl- und Gasvorkommen, seiner Fertigkeiten im Bereich der Cybertechnologie, seiner Nähe zu Europa und seines potenziellen Bündnisses mit China wird Russland weiter in der Lage sein, den USA Probleme zu bereiten, und Putins Abhängigkeit vom populistischen Nationalismus bietet ihm einen Anreiz dazu. Im Niedergang befindliche Mächte rechtfertigen genauso viel diplomatische Aufmerksamkeit wie im Aufstieg begriffene. Wenn Präsident Donald Trump irgendwann aus dem Amt geschieden ist, werden die USA jene ernst zu nehmende Russland-Strategie entwickeln müssen, die ihnen derzeit fehlt.

Aus dem Englischen von Jan Doolan.

Project Syndicate 1995–2019.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2019)

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