Mein Dienstag

Aber Berlin!

In den ersten Tagen des ersten Semesters meiner Studienzeit in Berlin nehme ich teil an einer Art Orientierungsspaziergang, wobei uns ein Drittsemestler die Humboldt-Uni erklären soll.

Wir finden uns also voller Ehrfurcht am Treffpunkt ein, bereit für Sätze wie: „Hier hat Albert Einstein seine Vorlesung gehalten“, oder: „Dort saß Heinrich Heine am liebsten“, aber der Drittsemestler hat andere Sachen im Kopf. Erst zeigt er uns alle Notausgänge, dann nimmt er uns im Innenhof der benachbarten Staatsbibliothek gefangen und redet eine Stunde lang uninteressantes Zeug. Währenddessen wankt ein anderer Erstsemestler konzeptlos hin und her – offenbar hält ihn das vom Schnarchen ab –, und berührt dabei mit seiner Schuhspitze unabsichtlich ein stinknormales, handelsübliches, in jeglicher Hinsicht profanes Stück Rasen in der Größe eines Reclam-Buches, woraufhin der Drittsemestler völlig ausrastet: „Das ist“, brüllt er bühnenreif im Namen der drei Grashalme in den Innenhof, „eine geschützte Grünfläche!!!“ Irgendwo zwischen Verängstigung und Amusement murmelt ein internationaler Student: Man solle zwecks Klarheit den Orientierungsspaziergang umbenennen in „Einführungsvorlesung Deutschland“.

Aber Berlin! Keine andere Stadt in Europa lebt so sympathisch und ehrlich die Ambivalenz zwischen Ordnung und Anarchie aus. 30 Jahre Mauerfall hat uns wieder die beinahe verrückte Geschichte der Stadt vor Augen geführt. Ich habe zu meiner Studienzeit einem türkeistämmigen, sehr herzigen Buben in Kreuzberg Nachhilfeunterricht gegeben. Einmal zeigte seine Mutter vom Küchenfenster aus auf die asphaltierte Straße gegenüber und erzählte, dass gleich dort die Mauer begonnen und sie auf der (nicht geschützten) Grünfläche vor diesem Ungetüm Tomaten, Gurken und Bohnen angebaut habe. Was am 9. November 1989 passiert ist, das habe sie mit ihren damals rudimentären Deutschkenntnissen gar nicht begreifen können. Da stand plötzlich diese schiere Menschenmenge unten, sie zertrampelte ihren Gemüsegarten – und alle umarmten sich!? Es gibt noch so viele Geschichten zu erzählen.

E-Mails an:duygu.oezkan@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.11.2019)

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