Umweltmonitoring

Am Baumstamm die Zukunft lesen

Von 88 Arten waren 16 nicht mehr zu finden.
Von 88 Arten waren 16 nicht mehr zu finden.W. Mayer/R. Türk
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Flechten sind stille Vorboten von Veränderungen im Ökosystem. Ein Team der Uni Salzburg erkennt an Vorkommen und Zustand der Flechtenarten die Luftverschmutzung.

Den VW-Diesel-Skandal haben wir Flechtenforscher quasi vorausgesagt“, erzählt Wolfgang Mayer. Er ist gemeinsam mit Veronika Pfefferkorn im Team des „Flechtenpapstes“ Roman Türk (Universität Salzburg) und kann aus dem Bewuchs an Baumstämmen vielleicht sogar die Zukunft lesen.

Denn die Dreier-Symbiose aus Algen, Pilzen und Bakterien, die von Unkundigen für Baumschwammerln oder Krankheiten gehalten werden, sind sehr verlässliche Bioindikatoren, die anzeigen, welche Umweltbedingungen herrschen. Das Vorkommen und die Zusammensetzung der verschiedenen Flechtenarten geben Auskunft über die Luftverschmutzung, lang bevor offizielle Stellen Alarm schlagen. „Anhand der Flechten, die sensibel auf Stickoxide reagieren, haben wir schon vor zwei, drei Jahrzehnten erkannt, dass es diesen immer schlechter geht. Und das, obwohl die Autohersteller gemeldet hatten, dass die Stickoxide in den Abgasen immer weniger werden“, erzählt Mayer.

Als der Betrug mit den gefälschten Abgaswerten dann aufflog, fühlten die Flechtenforscher sich bestätigt, weil ihre Methoden im Langzeitmonitoring korrekt gewesen waren, sie also schon lang davor gewusst hatten, dass die Werte an Stickoxiden in der Luft zu hoch waren.

Vielfalt sank um 20 Prozent

Als Testgebiet dienen den Forschern Wälder der Österreichischen Bundesforste (ÖBf) am Zöbelboden in den Nördlichen Kalkalpen bei Reichraming in Oberösterreich, ein steiles und zerklüftetes Gebiet. Auf etwa 90 Hektar Wald erstreckt sich hier einer der am besten ausgestatteten Forschungsstandorte Europas, wenn es um die Langzeitbeobachtung von Umweltfaktoren geht, wie auch das EU-Projekt „eLTER RI“ zeigt.

1993 begann der Tiroler Spezialist Paul Hofmann mit der Kartierung von etwa 100 Bäumen, an denen er den Bewuchs von Flechten dokumentierte. 1999 übernahm das Team um Türk aus Salzburg diese Studie und zeigt nun in regelmäßigen Abständen, wie es um die heimische Luftverschmutzung bestellt ist. „Flechten sind stille Vorboten von großen Veränderungen in Ökosystemen. Sie zeigen an, wenn Stoffe im Übermaß vorhanden sind oder wichtige Nährstoffe fehlen“, sagt Rudolf Freidhager, Vorstand der ÖBf.

Ob Rentierflechte, Landkartenflechte, Elchgeweihflechte, Blutaugenflechte oder Schönflechte: Ihre Bestandsaufnahme zeigt, dass die Luftqualität abnimmt. Die Vielfalt hat ebenso abgenommen und sich zugunsten der stickstoffliebenden Arten verschoben. „Die Kalkalpen sind die erste höhere Erhebung, wenn man von Norden her in Richtung Alpen blickt. Hier sammelt sich die Fernfracht vieler Länder an: Die mit Schadstoffen gefüllten Luftmassen bleiben hängen“, erklärt Mayer. Wenn es dort zu Niederschlag kommt, stecken in den ersten Minuten der Regengüsse dramatisch hohe Konzentrationen an Schadstoffen.

Stickoxide schaden dem Wald

„1999 konnten wir die höchste Vielfalt an Flechten am Zöbelboden dokumentieren, aber seither geht es kontinuierlich bergab“, sagt Mayer. Von 88 Flechtenarten waren zuletzt 16 nicht mehr aufzufinden. Und die, die noch zu finden sind, zeigen Schädigungen und fühlen sich sichtlich nicht wohl. „Sogar jene Arten, die stickstoffliebend sind, also hohen Luft-Stickstoff für ihr Wachstum brauchen, sind in letzter Zeit stark zurückgegangen, auch ihnen wurde es zu viel.“ Was in den 1980er-Jahren als Problem erkannt wurde, nämlich, dass Schwefelverbindungen zu saurem Regen führen, der die Pflanzen zerstört, kommt nun als Stickstoff-Problem wieder, da Stickoxide so reagieren, dass daraus giftige Salpetersäure werden kann. „Stickstoff ist vielleicht problematischer als Schwefel, da er physiologisch eine Rolle spielt“, so Mayer. Der Stoff wird von Pflanzen und Tieren aufgenommen und in die Zellen eingebaut.

Aus den Messungen der Luftwerte konnte das Umweltbundesamt für 2018 erkennen, dass die Konzentration der Stickoxide erstmals nicht schlechter geworden ist. „An den Bioindikatoren der Flechten sehen wir aber noch keine Besserung“, sagt Mayer. „Wir hoffen, dass die diesjährigen Ergebnisse der Tiefpunkt waren, und es nun langsam bergauf geht. Aber ich bin noch skeptisch.“

Die Forscher appellieren jedenfalls an die Bevölkerung, Flechten am Haus, im Garten und Wald zu bewahren. Weder auf Obstbäumen noch Holzzäunen oder Stadeln stellen die Bewachsungen eine Gefahr dar, sondern sind vielmehr Anzeiger einer gesunden Luft.

LEXIKON

Flechten sind eine symbiotische Lebensgemeinschaft aus Pilzen, Algen und Bakterien, die hohe Ansprüche an ihren Lebensraum stellen. Sie speichern Stickstoff und CO2 aus der Luft und reagieren sensibel auf Umweltveränderungen. Innerhalb ihrer ökologischen Nische sind Flechten aber sehr widerstandsfähig und zählen zu den langlebigsten Lebewesen überhaupt mit mehreren Hundert bis Tausend Jahren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.11.2019)

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