Gedankenlese

Nein, nicht alles ist faul im Staate Rumänien

Die Fachzeitschrift „Osteuropa“ widmet dem Land zwischen Pruth und Donau ein umfangreiches Heft.

Im November 2001 bezeichnete der einflussreiche, inzwischen verstorbene britische Historiker Tony Judt in einem Aufsatz in der „New York Review of Books“ Rumänien als „Schlusslicht Europas in jeder Hinsicht“. Gut, es war dies eine Momentaufnahme, entstanden auch aus Frustration eines liberalen westlichen Intellektuellen darüber, dass die rumänische Wählerschaft im Dezember 2000 den kaum gewendeten früheren Kommunisten Ion Iliescu erneut zum Präsidenten gewählt hatte. Dabei war gerade in Rumänien der Sturz des kommunistischen Regimes 1989 im Gegensatz zu anderen Ostblockstaaten überaus blutig verlaufen, über 1100 Menschen kamen bei dem politischen Umbruch ums Leben.
Im Vergleich zu anderen Staaten Mitteleuropas führte Rumänien in der westlichen Wahrnehmung immer ein Schattendasein, obwohl es ziemlich groß ist. Auch die deutschsprachige Welt hat es weitgehend ignoriert. Zumindest die Berliner Fachzeitschrift „Osteuropa“ setzt in ihrer neuesten Ausgabe einen Kontrapunkt: 350 Seiten Informationen über Politik, Gesellschaft und Kulturleben in Rumänien. Es gibt derzeit wohl keine andere Publikation, die das zeithistorische und aktuelle Geschehen zwischen Theiss, Pruth und Donau so kenntnisreich ausleuchtet wie dieses Heft.

Der große Einleitungsessay „Hundert Jahre Einsamkeit“ stammt von Oliver Jens Schmitt, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Uni Wien; er gehört inzwischen zu den besten Rumänien-Kennern weltweit. Der Titel bezieht sich darauf, dass Rumänien seit der Bildung des Königreichs Großrumänien im Jahr 1918 sowohl als Republik, Monarchie, Autokratie, faschistische Militärdiktatur oder kommunistische Diktatur einen eigensinnigen Kurs steuerte, der das Land phasenweise von der Außenwelt isolierte. Schmitt nennt es eine Grundkonstante der rumänischen Geschichte, dass die politische Elite im Laufe der Jahrhunderte gelernt habe, im Umgang mit den übermächtigen Nachbarn – Osmanen, Russen und Österreichern – den Willen dieser Protektoren zu unterlaufen und eigene Interessen durchzusetzen – und zwar durch scheinbare Willfährigkeit, dann durch zunehmende Subversion bis hin zur offenen Herausforderung: „Das Lavieren und Manövrieren zwischen übermächtigen Nachbarn, in einem Wetterwinkel Eurasiens, kennzeichnet die rumänische Politik bis heute.“

Schmitt beklagt, dass eine umfassende, selbstkritische Aufarbeitung der Geschichte seit 1918 bis heute in Rumänien fehle. Geschichte wird von den verschiedenen politischen Lagern instrumentalisiert, selbst Massenmörder wie der Militärdiktator von 1940 bis 1944, Ion Antonescu, kommen da plötzlich wieder zu Ehren. Auch der orthodoxe Ethnonationalismus, der in dem früheren Vielvölkerstaat so viel Tod und Leid unter den zahlreichen Minderheiten verursacht hat, ist noch nicht restlos überwunden.
Dennoch, ein „Schlusslicht“, das nur wenig mit nach Europa bringe, wie Judt 2001 feststellte, ist Rumänien ganz sicher nicht. Zwar sind die korrupten postkommunistischen Netzwerke in Rumänien noch immer da, haben die aus der Erbmasse der KP entstandenen Nachfolgeparteien in den vergangenen 30 Jahren über weite Strecken regiert, aber sie führen ein Rückzugsgefecht. Im Vergleich zu Ungarn gibt es in Rumänien eine kämpferische, unabhängige Justiz, gibt es freie Medien und eine wachsame Zivilgesellschaft, die den autoritären Versuchungen der Postkommunisten auf der Straße immer wieder mutig entgegentritt. Nein, nicht alles ist faul im Staate Rumänien.

E-Mails an: burkhard.bischof@diepresse.com

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