Gastkommentar

Nein, Kinder sind nicht einfach kleine Erwachsene

(c) Peter Kufner
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UN-Kinderrechtskonvention. In 30 Jahren ist es in Österreich nicht gelungen, den sperrigen Begriff „Kinderrechte“ greifbar zu machen.

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Wie werden in Ihrer Familie Entscheidungen über den nächsten Urlaub getroffen? Haben Sie schon einmal Fotos ihrer Kinder in den sozialen Medien veröffentlicht? Wie reagieren Sie, wenn Ihr Kind mit schlechten Noten nach Hause kommt? Und was hat das alles mit Kinderrechten zu tun?

Sehr viel. Die Kinderrechte feiern dieser Tage ihren 30. Geburtstag, konkret am 20. November. Viele große Worte fallen rund um diesen Anlass, die Bedeutung und Wichtigkeit des Abkommens werden betont. „Kinderrechte“ – das ist ein Schlagwort, das gut klingt – doch es bleibt eine Worthülse, wenn wir es nicht immer wieder mit Leben erfüllen. In 30 Jahren ist es nicht wirklich gelungen, den sperrigen Begriff für die Menschen greifbar zu machen. Dabei sehe ich auch unsere eigene Rolle als Kinderrechtsorganisation durchaus selbstkritisch. Die Artikel der Kinderrechtskonvention werden in keine direkte Verbindung mit dem Alltag österreichischer Familien gebracht. Und doch betreffen Kinderrechte uns alle.

Es geht darum, Kinder und Jugendliche nicht als unfertige Menschen anzusehen, die nicht wissen, was gut für sie ist. Es geht darum, sie als Persönlichkeiten anzuerkennen, die das Recht auf eine eigene Meinung haben. Immer wieder müssen wir uns fragen, wie wir unser Zusammenleben mit der nächsten Generation gestalten wollen. Welchen Respekt möchten wir ihr entgegenbringen?

Recht auf eigene Meinung

Junge Menschen sehen die Dinge oft klarer als Erwachsene, das haben sie uns 2019 im wahrsten Sinn des Wortes demonstriert. Die „Fridays For Future“-Bewegung macht auf der ganzen Welt deutlich, wie wichtig es ist, Kindern und Jugendlichen nicht nur zuzuhören, sondern aus ihren Forderungen auch konkrete politische Handlungen abzuleiten. Rund um den 30. Geburtstag der Kinderrechtskonvention gibt es von Seiten der Politik viele Versprechungen und Willensbekundungen.

Wir fordern von der zukünftigen Regierung, auch konkrete Taten zu setzen. 30 Jahre nach der Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention ist es höchste Zeit, die Umsetzung der Kinderrechte in unserem Land einer umfangreichen Bestandsaufnahme zu unterziehen. Denn eines ist klar: Nicht nur in Familien werden Kinderrechte ignoriert – und nicht nur sozial benachteiligte Kinder sind betroffen. Auch als Gesellschaft haben wir eine Verantwortung zu tragen. Österreich hat 1992 die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet und seit 2011 gibt es ein Verfassungsgesetz über die Rechte des Kindes – trotzdem werden Kinderrechte in Österreich jeden Tag strukturell missachtet.

Ein Beispiel: Rund 370.000 Kinder in Österreich gelten als arm. Sie leben in Haushalten, deren Einkommen so niedrig ist, dass trotz intensiver Bemühungen der Eltern Startschwierigkeiten ins Leben vorgezeichnet sind. Gesundheitsstatuts, Bildungschancen, gesellschaftliche Teilhabe – Kinder aus einkommensarmen Familien werden in Österreich diskriminiert. Sie sind häufiger einem ungesunden Wohnumfeld mit Lärm, schimmelnden Wänden oder Feinstaub ausgesetzt, können sich keine Nachhilfe leisten oder haben kein Geld für Kino oder den Sportverein. Nur 15 % von ihnen schaffen den gesellschaftlichen Aufstieg und damit den Ausweg aus der vererbten Armutsspirale.

370.000 Kinder gelten als arm

Besonders inkonsequent wendet Österreich die Kinderrechte gegenüber Flüchtlingskindern an. Diese werden im Sozialsystem, im Bildungssystem, beim Recht auf Familie, aber auch etwa bei ihrem Recht auf Privatsphäre gegenüber anderen Kindern in Österreich benachteiligt. Dramatische Erlebnisse im Herkunftsland oder auf der Flucht bräuchten aus kinderrechtlicher Sicht eine besondere Aufarbeitung. Doch die Ressourcen für entsprechende psychologische Betreuung fehlen. Therapieplätze sind rar, insbesondere solche auf Krankenschein. Ein flächendeckender Ausbau therapeutischer Angebote für Kinder ist dringend notwendig.
Wenn ein Kind nicht bei seinen Eltern leben kann, hat der Staat dafür zu sorgen, dass es außerhalb der Familie bestmöglich versorgt und betreut wird – etwa in einer Pflegefamilie oder in einer Wohngruppe. Die Qualität dieser Betreuung ist in Österreich von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Etwa was die Gruppengröße betrifft oder die verpflichtende Beteiligung von Kindern bei wichtigen Entscheidungen. Eine österreichweite Harmonisierung der Betreuungsstandards ist dringend notwendig.

Ein Problem, das sich durch all die erwähnten Bereiche zieht, ist sicher mangelndes Bewusstsein und Wissen über die Rechte von Kindern in Gesellschaft und Politik. Die UN-Kinderrechtskonvention ist entstanden, weil Kinder keine kleinen Erwachsenen sind, sondern die Phase der Kindheit von besonderen Bedürfnissen geprägt ist und einen besonderen Schutz braucht.

In Österreich müssten entsprechend der verfassungsgesetzlichen Vorgaben alle Gesetze auf ihre Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche hin geprüft werden. Die praktische Umsetzung dieser Prüfung ist allerdings eine Farce. Ob Sozialhilfe neu, die Kompetenzverschiebungen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe oder die Lockerungen beim Umweltschutz im Zusammenhang mit Bewilligungsverfahren – nirgends wurde die Auswirkung auf Kinder und Jugendliche erkannt und berücksichtigt.
Deutschland, um ein Gegenbeispiel zu nennen, nimmt seine Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen völlig anders wahr. In Kooperation von Politik und Wissenschaft, aber vor allem unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, entstand das unabhängige Kompetenzzentrum Jugendcheck. In einem zweistufigen Verfahren werden die Auswirkung von Gesetzesvorschlägen auf Kinder und Jugendliche überprüft und der Gesetzgebung eine verantwortungsvollere Entscheidung ermöglicht. In Österreich machen diesen Check jene Ministerien, die einen Gesetzesentwurf selbst vorlegen. Sie haben kein Interesse daran, an ihrem eigenen Entwurf noch etwas zu ändern. Die jeweiligen Legisten haben in der Regel keine besondere kinderrechtliche Kompetenz und entsprechend schauen die Bewertungen aus.

Dennoch ein Grund zum Feiern

30 Jahre Kinderrechte sind ein Grund zum Feiern. Vor 30 Jahren hat sich die Weltgemeinschaft dazu durchgerungen, festzuschreiben, dass Kinder nicht nur für ihre Eltern, sondern für die globale Gemeinschaft „etwas Besonderes sind und besondere Behandlung brauchen“. Ein globales Ethikgesetz zum Schutz und zur Förderung von Kindern wurde damit etabliert. Wann, wenn nicht jetzt, ist neben dem Feiern auch der richtige Zeitpunkt, um kritisch zu schauen, wo es in Österreich an der Umsetzung der Kinderrechte noch Nachholbedarf gibt.

Kinder haben Rechte und sie fordern diese auch immer lauter ein! Wir müssen nur endlich lernen zuzuhören.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor

Christian Moser (54) feierte 2018 sein zehnjähriges Jubiläum als Geschäftsführer von SOS-Kinderdorf. Der Tiroler verantwortet nunmehr die Agenden Support, externe Kommunikation, Public Affairs, Beteiligungen und Finanzen. Moser studierte Wirtschaft in Innsbruck, Wien und New Orleans und kam 1996 als Leiter der Finanzabteilung zu SOS-Kinderdorf. Vor seinem Eintritt in die Geschäftsführung war er Fachbereichsleiter für die Betriebswirtschaft.

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