„Atelier Afrika“: Das neue Leben des Kindersoldaten Kasim

(c) AP (BRENNAN LINSLEY)
  • Drucken

Er wurde als 14-Jähriger gekidnappt und zum Töten und Plündern gezwungen. Ein Amnestiegesetz und ein traditionelles Versöhnungsritual ermöglichten dem einstigen Rebellen die Rückkehr in die Gesellschaft.

Lauf nicht so schnell!“, brüllt Kasim einem Freund hinterher. Nach Luft ringend bemüht sich Kasim, Schritt zu halten. Auch er will rechtzeitig in der Schule sein. Doch plötzlich machen seine Freunde halt. Durch das grelle Sonnenlicht geblendet, erkennt Kasim nur undeutlich einige Männer: Bewaffnete in Uniform, Kämpfer der „Lord's Resistance Army“ (LRA).

Das ist eineinhalb Jahrzehnte her. Mit 14 wurde Kasim Echike im Norden Ugandas von Rebellen der LRA entführt und zum Soldaten gedrillt. Er wagte nicht, sich zu widersetzen: „Wenn jemand versucht zu flüchten, wird er erschossen“, lautete der Befehl innerhalb der LRA. „Wer nicht spurt, wird aus dem Weg geräumt.“ Kasims Alltag bestand von da an darin, zu plündern, zu vergewaltigen und zu töten – in ständiger Angst davor, von ugandischen Regierungssoldaten erschossen zu werden.

Amnestie für 23.000 Menschen

Mehr als 20 Jahre terrorisierte die LRA, angeführt von Joseph Kony, den Norden Ugandas. Kony nennt sich selbst „Prophet Gottes“. Er will Ugandas Führung stürzen und einen Staat errichten, der „nach den zehn Geboten“ regiert wird. Ob Kasim dieses Ziel unterstützen wollte oder nicht, konnte er sich nicht aussuchen.

Um die LRA zu schwächen und die Kämpfe friedlich zu beenden, verabschiedete die Regierung Ugandas unter Präsident Yoweri Kaguta Museveni im Jahr 2000 den „Amnesty Act“: ein Gesetz zur Reintegration, um den Rebellen eine Rückkehr in die Gesellschaft zu ermöglichen, ohne strafrechtlich belangt zu werden. Mehr als 23.000 Menschen konnten auf diese Weise wieder reintegriert werden.

Gut 6000 Kilometer nördlich von Uganda geht Luis Moreno Ocampo seinem täglichen Geschäft nach. Er ist Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag und startete 2003 auf Ansuchen Musevenis die Untersuchungen im Fall der LRA. Das gipfelte 2006 in einem Haftbefehl, der gegen Kony und vier seiner Oberbefehlshaber ausgesprochen wurde. Der Zeitpunkt war denkbar ungünstig, da kurz zuvor Konys Emissäre und die Regierung Ugandas begonnen hatten, ein Friedensabkommen zu verhandeln. Für viele war der Frieden in greifbare Nähe gerückt. Doch Kony weigerte sich, das mehr als zwei Jahre lang verhandelte „Juba Peace Agreement“ zu unterzeichnen, aus Angst vor dem Strafgerichtshof, wie er sagte.

Zweite Chance durch Mato Oput

Kasim Echike wusste damals nichts vom Vorhaben Ocampos. Er wusste nur, dass er es keinen Tag länger als Soldat der LRA aushalten würde. Nervös zupft Kasim an seinem T-Shirt, während er schweigend zu Boden starrt. „Ich hatte Angst zurückzukommen“, murmelt er. Kasim konnte niemandem trauen. Dem Falschen von seiner geplanten Flucht zu erzählen, wäre sein Todesurteil gewesen. Dennoch hat er es geschafft.

Nach elf Jahren in den Reihen der LRA konnte er mit 25 Jahren endlich entkommen. „Ich wusste nicht, wo ich hin sollte. Ich wusste nicht einmal, wo ich genau war“, erinnert er sich. Plötzlich huscht ein Lächeln über seine Lippen. Fast erleichtert atmet er auf, als er seine Geschichte noch einmal durchlebt. „Ich habe zwei Männer getroffen. Sie haben mich in ein Reintegrationszentrum in Kigtum gebracht.“ Wie unzählige andere hatte Kasim Glück und bekam eine zweite Chance, sein Leben neu zu beginnen.

„Mato Oput“ nennt sich ein traditionelles Versöhnungsritual des Volkes der Acholi, die im Norden Ugandas leben und somit am stärksten von den Übergriffen der LRA betroffen waren. Das Ritual wird seit jeher durchgeführt, um Konflikte beizulegen. „Wenn du bereit bist, Reue zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen, rufen die Dorfältesten die Gemeinschaft zusammen und du bittest um Verzeihung“, erklärt Kasim, dem selbst mit Hilfe von „Mato Oput“ vergeben wurde.

Bitterkeit aus Herzen vertreiben

Bei dem Ritual wird ein traditioneller Trank aus der bitteren Wurzel des Oput-Baumes hergestellt. Ziel der Zeremonie ist es, die Bitterkeit aus den Herzen der Menschen zu vertreiben und die Einheit der Gemeinschaft wieder herzustellen. Der Täter und ein Vertreter des Dorfes knien nieder und trinken aus einer Schüssel, während die Teilnehmer der Zeremonie „Akoli moshera eyoliki maberu!“ („Wir vergeben dir!“) rufen.

Mittlerweile haben sich Kony und seine Rebellen in Ugandas Nachbarland Kongo zurückgezogen. Im Dezember 2008 zerstörten ugandische und kongolesische Truppen in einer international unterstützten Aktion Konys Basislager. Doch die LRA überfällt weiter Dörfer im Kongo und Südsudan.

In Uganda leben heute noch immer mehr als 600.000 Menschen in Reintegrationszentren und Lagern für „intern Vertriebene“. Die Camps werden mit staatlicher Unterstützung von lokalen Hilfsorganisationen betrieben. Hier können einstige LRA-Kämpfer über ihre Erfahrungen sprechen und versuchen, wieder Fuß zu fassen. Traditionelle Versöhnungsrituale wie „Mato Oput“ spielen eine zentrale Rolle dabei, die Einheit der Gemeinschaft wieder herzustellen.

„Ich konnte mir verzeihen“

Heute ist Kasim Echike 30 Jahre alt, verheiratet und betreibt gemeinsam mit seiner Frau eine Farm in seinem Heimatdorf Atana. Er ist froh, am Leben und wieder Teil der Gemeinschaft zu sein: „Ich konnte mir verzeihen, weil die Menschen mir vergeben haben.“ Ob Kony jedoch jemals gefasst wird und wann Kasims Kinder in Sicherheit im Freien spielen können, diese Fragen werden den Heimkehrer noch lange verfolgen.

Dieser Artikel ist Teil des Projekts „Atelier Afrika“. Dabei erstellen Studierende des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Uni Wien gemeinsam mit Studierenden in Afrika Texte.

Redaktion: Wieland Schneider

Alle Artikel unter: www.diepresse.com/kenako

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Außenpolitik

Krank in Äthiopien

Ärzte-, Betten und Medikamentenmangel und Patientenflut stellen die größten Herausforderungen für Äthiopiens Gesundheitssystem dar.
Außenpolitik

Azmari: Äthiopische Sänger-Poeten zwischen Unterhaltung und Sozialkritik

Eine Kombination aus sozialkritischem Kabarett, humoristischer Improvisation und der Thematisierung von gesellschaftsrelevanten Themen, liefern Azmaris während ihrer musikalischen Auftritte.
Weltjournal

Aufklärung statt Strafe: Verzeihen auf Afrikanisch

In Südafrika, Uganda und Ruanda suchte man Alternativen, um Gräuel der Vergangenheit aufzuarbeiten.
Africas next Topmodel fuer
Weltjournal

„Atelier Afrika“: Africa's next Topmodel - TV für die Oberschicht

Schlanke Mädchen aus ganz Afrika kämpfen in der Show "Face of Africa" um eine Karriere als Supermodel. Die Kopie westlicher Schönheitsideale? Besonders in urbanen Gebieten erfreut sich die Sendung größter Beliebtheit.
Uganda Vollgas Unabhaengigkeit
Weltjournal

„Atelier Afrika“: Uganda - Mit Vollgas in die Unabhängigkeit

Das rasante Bevölkerungswachstum zwingt die Menschen in den Städten zur Eigeninitiative, wollen sie für sich und ihre Familien ein Auskommen finden. Ein Lokalaugenschein bei Kampalas Motorradtaxifahrern.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.