Analyse

Das Ende der Erweiterungsillusion

June 29, 2018 - Brussels, Belgium - French President Emmanuel Macron arrives at The European Council summit in Brussels
June 29, 2018 - Brussels, Belgium - French President Emmanuel Macron arrives at The European Council summit in Brussels(c) imago images/ZUMA Press (Alberto Pezzali via www.imago-im)
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Kritiker und Befürworter der EU-Erweiterung sind sich einig: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Ein französischer Reformvorschlag eröffnet eine lang überfällige Grundsatzdebatte.

Brüssel. Knapp vor dem Wochenende begann in Brüsseler Diplomaten- und Korrespondentenkreisen ein sechsseitiges Dokument mit dem spröden Titel „Non-Paper: Reforming the European Union accession process“ zu kreisen. Dieses Dokument ohne Autorenangabe stammt von der französischen Regierung und skizziert jene fundamentale Reform der Erweiterungspolitik der Union, welche Präsident Emmanuel Macron seit Antritt seines Amtes vor zweieinhalb Jahren mit wachsender Vehemenz fordert.

Vier Grundsätze prägen sein Denken dafür, wie der Umgang der EU mit den sechs Westbalkanstaaten (denn andere seriöse Kandidaten für etwaige Beitrittsgespräche gibt es nicht) reformiert werden sollte. Erstens sollten künftige Beitritte schrittweise passieren. Derzeit ist das nicht so. Zwar dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis die 35 Kapitel der Beitrittsverhandlungen abgeschlossen sind. Doch sobald alle erledigt sind, wird der Kandidat zum Stichtag Vollmitglied der EU. Statt parallel über alles zu verhandeln, solle es künftig sieben Stufen geben: Beginnend mit dem Bündel aus Rechtsstaat, Justiz, Grundrechten und Sicherheit, über jenes aus Bildung, Forschung, Kultur, Umwelt, Transport, Telekommunikation und Energie, bis hin zum letzten Bündel aus Binnenmarkt, Landwirtschaft und Fischerei sowie Außenpolitik.

Mehr Geld für Erweiterung

Die wesentliche Änderung zum Status quo: Sobald einer dieser Reformblöcke absolviert ist, soll der Kandidat bereits voll an den damit verbundenen EU-Politiken teilnehmen. „Zum Beispiel könnte die Teilnahme am Europäischen Forschungsraum für eine frühe Stufe geplant werden“, heißt es im Papier. „Der Zugang zum Binnenmarkt würde besser für das Ende des Verfahrens gelassen werden.“

Zweiter Grundsatz von Macrons Reformidee: streng bindende Regelungen – vor allem im Bereich der Rechtsstaatlichkeit. Die Kandidaten müssten europäische Grundsätze so fest einführen, dass sie praktisch unumkehrbar würden. Der Vollbeitritt zur EU solle nur erfolgen, wenn „greifbare wirtschaftliche und soziale Konvergenzkriterien“ erfüllt sind.

Die EU müsste den Kandidatenländern jedoch auch mehr helfen als bisher. Das dritte Prinzip des französischen Reformvorschlags sieht darum „greifbare Vorteile“ vor – allen voran mehr Geld aus dem Unionshaushalt. Daran sei viertens allerdings auch die Möglichkeit geknüpft, bereits erfolgte Integrationsschritte umzukehren, „wenn ein Beitrittsland bestimmte Kriterien nicht mehr erfüllt oder aufhört, eingegangene Verpflichtungen einzuhalten.“

Eine Sprecherin der Kommission wollte diesen Vorschlag am Montag nicht kommentieren. Generell reagiert die Brüsseler Behörde ziemlich empfindlich auf selbst wohlmeinende Kritik am Erweiterungsprozess; schnell läuft man hier in den Vorwurf, ein „Erweiterungsfeind“ zu sein.

Norwegen am Balkan

Doch dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, argumentieren auch erklärte Anhänger der Aufnahme der Westbalkanstaaten in die Union. Der Österreicher Gerald Knaus argumentiert mit seinem Thinktank Europäische Stabilitätsinitiative seit einiger Zeit für eine Reform. Allerdings zäumt er das Pferd, bildlich gesprochen, vom entgegengesetzten Ende auf: Zuerst sollten die Westbalkanländer in den Europäischen Wirtschaftsraum beitreten können und somit am Binnenmarkt der EU teilnehmen können. Das habe schon Kommissionspräsident Jacques Delors im Jänner 1989 vorgeschlagen. Die Teilhabe am Binnenmarkt würde die Kandidatenländer, so Knaus' Argument, erstens zu jenen grundlegenden Reformen anspornen, die ohnehin für den Vollbeitritt nötig sind. Zweitens würden sich daraus sofort konkrete Vorteile für ihre Bürger ergeben.

Auf einen Blick

Frankreich hat einen Vorschlag für die Reform der EU-Erweiterungspolitik vorgelegt. Die Kandidaten sollten, wenn sie verschärfte Kriterien erfüllen, schon vor dem Vollbeitritt an manchen Bereichen der EU teilnehmen können. Es solle dafür mehr Geld von der EU kommen – der Prozess solle aber auch, anders als jetzt, umkehrbar sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.11.2019)

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