"Die Presse" befragt Experten

(c) Michaela Bruckberger
  • Drucken

"Die Presse" befragt vier Experten über die gemeinsame Schule.

"Begabte füttern, kleine Gruppen"

Rainer Domisch, Bildungsexperte der finnischen Regierung: "Alle sollen in einer Gesamtschule bis 14 den gleichen Grundunterricht bekommen und dann entsprechend ihrer Begabung individuell gefördert werden“, sagt Rainer Domisch, Bildungsberater der finnischen Regierung und Mitglied der Expertengruppe für die „Neue Mittelschule“. Im PISA-Testsiegerland Finnland geht der gemeinsame Basisunterricht sogar bis zur neunten Schulstufe.

In den Kernfächern dürfe es keine Leistungsgruppen geben. Stattdessen müssten Begabte und Schwache im gemeinsamen Grundunterricht intensiv gefördert werden. Hochbegabte sollten mit Zusatzaufgaben und -material „gefüttert“ werden, aber auch Schwächeren helfen. Talentierte und Interessierte sollten in Neigungsgruppen vier oder fünf Sprachen statt nur zwei Pflichtsprachen lernen können.

Damit alle weiterkommen, brauche es kleinere Lerngruppen, in Finnland zählen solche im Schnitt 16 Schüler. Wo einzelne Schwächere dabei sind, soll ein zweiter Lehrer aktiv sein, der Extrahilfe innerhalb des Regelunterrichts anbietet. Es sollten aber auch Kleingruppen abseits des allgemeinbildenden Unterrichts geführt werden. Und zwar überall dort, wo spezielle Betreuung notwendig ist. So zum Beispiel für Kinder, die Lese- oder Rechtschreibschwächen haben und unter anderem Mathematikbeispiele ohne zusätzliche Erklärung nicht verstehen würden. Damit Kinder, die noch kaum Deutsch können, in der Schule mitkommen, brauche es im Jahr vor der Einschulung hunderte Stunden Sprachunterricht, sagt Domisch. In Finnland sind es 400 bis 600. Den Eltern, die eine Teilnahme verhindern, soll das Kindergeld gestrichen werden. Für ältere „Seiteneinsteiger“ mit Defiziten soll es statt und später parallel zum Regelunterricht Sprachförderstunden geben. Wer in einem Fach scheitert, soll nur den betreffenden Kurs, nicht ein ganzes Schuljahr wiederholen müssen. Unterrichtseinheiten sollten je nach Thema zwischen 50 Minuten und zwei Stunden variieren. Außer der Betreuung durch Lehrer brauche es gerade an Gesamtschulen auch Gesundheitsbetreuer und Sozialarbeiter.

"Leistungsgruppen notwendig"

Margit Wochesländer, AHS-Lehrerin: Ohne Leistungsgruppen funktioniert eine Gesamtschule nicht“, glaubt AHS-Lehrerin Margit Wochesländer, andernfalls würde das Niveau insgesamt sinken. Denn Schüler würden sich eben leider meist eher nach unten als nach oben orientieren. Schlecht fänden sie und ihre Kollegen am BG und BRG Boerhaavegasse auch, wenn man im Lehrberuf künftig von der akademischen Ausbildung abgehen würde. „Eigentlich müssten wir noch besser ausgebildet sein – etwa im Umgang mit sozialen Randgruppen oder in Teamteaching: Das sollten wir tun, haben es aber nie gelernt.“ Ein ordentliches Handwerkszeug für „Motivationsförderung“ hält Wochesländer ebenfalls für unumgänglich. Es gebe im Schulwesen ein Übergewicht an negativem Feedback. „Man sollte viel mehr die Stärken der Schüler hervorheben.“

Ein Fan der Gesamtschule sei sie eigentlich nicht, gibt Wochesländer im „Presse“-Gespräch unumwunden zu. „Die gescheiteren Schüler werden leiden.“ Und wie sähe die ideale Schule aus ihrer Sicht aus? Dort gäbe es „Teamteaching“ und die Auflösung starrer Unterrichtseinheiten, meint sie. Jetzt komme ein Lehrer/eine Lehrerin für 50 Minuten in die Klasse und dann vielleicht erst drei Tage später wieder. Fächerübergreifendes werde in Projekte gepackt, die „nebenbei“, also eher improvisiert, auf die Beine gestellt werden. „Wir bräuchten viel mehr Zeit, um so etwas zu planen.“ Und tendenziell wurschtle derzeit sowieso jedes Fach und jeder Pädagoge allein vor sich hin.

Die AHS-Lehrerin für Deutsch und Turnen vermisst Leistungsorientierung („Jetzt werden viel zu viele Schüler bis zur Matura einfach nur mitgeschleppt.“) und Kreativitätsförderung: Das gehe im Schulalltag ebenfalls oft unter.

Eine ideale Klassengröße würde 20 Schüler nicht überschreiten, „das wäre ein Traum“. Jetzt sitzen, zum Beispiel nach Klassenzusammenlegungen in der Oberstufe, bis zu 30 Jugendliche in einem Klassenzimmer. „Ich unterrichte derzeit insgesamt 120 Schüler. Wie soll man da auf alle persönlich eingehen?“

"Migranten besser verteilen"

Nikolaus Glattauer, Autor und Lehrer an einer kooperativen Mittelschule: Wir sollten endlich mit den Schulversuchen aufhören und – so wie fast überall in der Welt – flächendeckend eine Gesamtschule einführen. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit“, sagt Nikolaus Glattauer. Der ehemalige Journalist ist ausgebildeter Hauptschul- und Integrationslehrer. Glattauer unterrichtet an der kooperativen Mittelschule Schopenhauergasse (die soeben mit dem Österreichischen Integrationspreis ausgezeichnet wurde).

Leistungsgruppen steht Glattauer skeptisch gegenüber. Das könnte Schüler neuerlich stigmatisieren. Aber wie verhindert man dann Nivellierung – Klassenwiederholung soll ja auch abgeschafft werden? Mit differenzierter Bewertung, sagt Glattauer, Gesamtschule heiße ja außerdem nicht leistungslose Schule. Am Ende könne durchaus im Zeugnis stehen, dass ein Fach „nicht genügend“ beherrscht werde. „Aber vielleicht braucht das der Absolvent für seinen künftigen Job gar nicht.“ Das Niveau werde trotzdem insgesamt steigen, beruhigt Glattauer. Er beobachte immer wieder gescheiterte AHS-Schüler an seiner Hauptschule. „Sie kommen zunächst mit schlechtem Selbstwertgefühl. Aber zwischen 70 und 80 Prozent von ihnen besuchen nach ihrem Hauptschulabschluss eine weiterführende Schule.“

Bei einer Gesamtschule könnte man außerdem Migranten, „die jetzt fast zu 100 Prozent in der Hauptschule sitzen“, besser auf die Schulen verteilen. „Kinder mit nicht deutschsprachigen und bildungsdesinteressierten Eltern haben derzeit immense Nachteile.“ Sehr viele Kinder hätten auch nach der Volksschule noch Sprachprobleme. Ein Rückstand, der nur schwer aufzuholen ist. Glattauer hofft daher auf das verpflichtende Kindergartenjahr. Jeder Lehrer in einer Gesamtschule sollte eine sonderpädagogische Ausbildung haben, findet er. Denn es gebe in jeder größeren Klasse ein bis zwei verhaltensauffällige Kinder, die einem Lehrer das Leben schwer machen.

Glattauer schreibt übrigens gerade ein Buch, das im Herbst erscheint: „Der engagierte Lehrer und seine Feinde“.

"Lehrer 40 Stunden an die Schule"

Kristina Edlinger-Ploder, steirische ÖVP-Wissenschaftslandesrätin: Schon vor vier Jahren stellte sich die steirische ÖVP-Wissenschaftslandesrätin Kristina Edlinger-Ploder gegen die damalige Linie der Bundespartei und ihrer ÖVP-Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer und sprach sich für eine Gesamtschule aus. An Edlinger-Ploders Überzeugung für die Sinnhaftigkeit einer – ganztägig geführten – Gesamtschule hat sich seither nichts geändert. So war die Steirerin unter den Ersten, die Wissenschaftsministerin Beatrix Karl Rückendeckung bei ihrem jüngsten Vorstoß gaben. Ein internationaler Vergleich zeige ja, dass kein vergleichbares Land mehr das österreichische System habe.

Für überlegenswert hält die steirische Landesrätin auch das Überdenken der Stellung der katholischen Privatschulen, die – zum Unterschied zu kleinen Privatschulen, die in der Steiermark nur relativ geringe Förderungen erhalten – das Lehrpersonal ja vom Bund zu Verfügung gestellt bekommen.

Weniger zufrieden ist Edlinger-Ploder mit der derzeitigen Form der „Neuen Mittelschule“. Der Weg von Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) sei falsch, kritisiert die Steirerin. Zwar spricht sich Edlinger-Ploder für autonome Schwerpunktsetzungen an den lokalen Schulstandorten aus, aber man könne nicht in jedem Bundesland ein eigenes Modell zulassen: „Welches Modell ist es denn dann am Ende?“, fragt sich Edlinger-Ploder und befürchtet eine neue Unübersichtlichkeit.

Die steirische Landesrätin will zudem das Dienstrecht und die Ausbildung des Lehrpersonals an öffentlichen Schulen ändern. Zum einen sollte es nur noch eine gemeinsame Lehrerausbildung geben, zum anderen schlägt die ÖVP-Politikerin vor, dass Lehrer ihre 40-Stunden-Woche direkt in der Schule absolvieren. Nachsatz: „An adäquaten Arbeitsplätzen, die geschaffen werden müssen.“ Mit einer Dauerpräsenz könnte „das falsche Bild eines Halbtagsjobs korrigiert werden“, sagt Edlinger-Ploder und hofft auf eine allgemein bessere Kommunikationsatmosphäre an den Schulen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Schule

Wie sieht die ideale (Gesamt-)Schule aus?

Immer mehr ÖVP-Politiker sind für eine gemeinsame Schule. "Die Presse" fragte Experten, wie diese funktionieren könnte.
Leitartikel

Lasst uns Tacheles über die neue Schule reden

Wer nicht riskieren will, dass mit der Gesamtschule ein Run auf Privatschulen einsetzt, muss ernsthaft reformieren.
''Stalin, Eintopf, Spät-Achtundsechziger''

Zitate zur Gesamtschule

Schule

Wirtschaft und Industrie kämpfen für Gesamtschule

WKÖ-Präsident Leitl und IV-Chef Sorger drängen auf eine Förderung unter einem Dach. Leitl: "Kernstück einer Bildungsreform „vom Kindergarten bis zum Altersheim“ müsse Gesamtschule für alle Zehn- bis 14-Jährigen sein."
Gesamtschule soll Parallelen Stalins
Schule

Gesamtschule mit Stalins Diktatur verglichen

Furcht vor einer "Zwangskollektivierung" an den Schulen. Unterrichten würden dort lediglich "billige Retorten-Pädagogen".

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.