Gucci wurde 2018 für ein Design ­kritisiert, das den Turbanen der Sikh bis ins Detail glich.

Die fließende Grenze: Kulturelle Aneignung in der Mode

Inspiration aus der Ferne, Hommage an andere Nationen oder kulturelle Aneignung? Über das unausgesetzt schwierige Verhältnis der Mode zu kultureller Sensibilität.

Samt und Seide in sattem Rot und Schwarz, schwungvoll gemusterter Brokat, üppige Accessoires in Gold: Im Herbst 1977 stellte Yves Saint Laurent in Paris seine von chinesischer Mode und Kultur inspirierte Kollektion „Les Chinoises“ vor. Kritiker nahmen sie durchwegs wohlwollend auf, und das, obwohl der französische Designer bis zu dem Zeitpunkt noch keinen Fuß auf chinesischen Boden gesetzt hatte. Während diese Arbeitsweise in der Vergangenheit gelebte Praxis von Designern der ganzen – meist westlichen – Welt war, wäre derlei heute ohne mediale Kritik kaum denkbar. Authentizität hat sich in der Modebranche zu einem Schlüsselbegriff gemausert. Vorwürfe der kulturellen Aneignung werden in regelmäßigen Abständen gegenüber diversen Designern laut. Dabei meint Cultural Appropriation, dass sich dominante Gesellschaftsgruppen an Kulturgütern – in diesem Fall Mustern und traditionellen Gewändern – von marginalisierten Gruppen bereichern oder sie sich ohne Quellenverweis oder Wissen um Tradition und Kontext aneignen.

Cherrelle und Leni Charles gehört das Label Kids of the Diaspora.
Cherrelle und Leni Charles gehört das Label Kids of the Diaspora.Marko Mestrovic

Zuletzt war es das Modehaus Dior, das mit seiner Kampagne zum Parfum „Sauvage“ polarisierte. Angekündigt wurde sie als „authentische Reise tief in die Seele der amerikanischen Ureinwohner“. Hauptdarsteller des Werbevideos war allerdings der US-amerikanische Schauspieler Johnny Depp, der gedankenverloren durch die Wüste Utahs zieht. Im Hintergrund tanzt Canku One Star, Mitglied der Rosebud Sioux, auf einem Berg. „Ein indigenes Volk mit dem Wort ,sauvage‘ (frz. wild, Anm. d. Red.) in Verbindung zu bringen ist schon der erste Fauxpas in dieser Werbung, die voller Fauxpas steckt“, meinen Cherrelle und Leni Charles, Gründerinnen des Wiener Modelabels Kids of the Diaspora. Als schwarze Unternehmerinnen in Österreich wollten sie mit ihrer Marke eine Anlaufstelle für Menschen unabhängig von Herkunft, Geschlecht und sexueller Orientierung schaffen. Das Thema kulturelle Aneignung ist eines ihrer zentralen Anliegen: „Über Musik, Film, Fasching, Christentum und Kinderbücher ist diese Praxis schon früh an uns weitergegeben worden, sodass wir sie als selbstverständlich wahrnehmen. So bemerkt man die eigene Ignoranz gegenüber ausgebeuteten Kulturen nicht. Das Empathievermögen dafür entwickelt sich erst mit wachsendem Wissen.“

Marc ­Jacobs schickte 2016 mehrheitlich weiße Models mit Dreadlocks über den Laufsteg.
Marc ­Jacobs schickte 2016 mehrheitlich weiße Models mit Dreadlocks über den Laufsteg. REUTERS (Andrew Kelly)

Bumerang. Dior ist aber nicht das einzige Modehaus, das wegen ähnlicher Anschuldigungen in der Kritik steht. Gegenwind erntete auch Marc Jacobs, als er 2016 beinahe ausschließlich weiße Models mit Dreadlocks über den Laufsteck schickte, Chanel für einen Aboriginal-Bumerang 2017, Gucci für 2018 designte Turbane, die einer traditionellen Kopfbedeckung der Sikh glichen. Erst diesen Sommer wurden die venezolanische Designerin Carolina Herrera und ihr Creative Director Wes Gordon gar von der mexikanischen Regierung in einem offenen Brief für ihre Resort-Kollektion 2020 gescholten. Einige Stickereien aus den Entwürfen seien beinahe identisch von den Tehuantepec in Oaxaca und dem Volk der Tenango de Doria in Hidalgo übernommen worden. Wes Gordon wehrte sich gegen die Vorwürfe und meinte, die Kollektion „sei eine Hommage an den kulturellen Reichtum Mexikos“. Trotz vehementer Kritik von Minderheitenvertretern und Kunden in Social Media sowie vermehrter medialer Berichterstattung hören die Fehltritte der Modehäuser nicht auf und weisen auf ein systemisches Problem hin. So richteten die Marken Chanel und Gucci als Reaktion erstmals die Position eines Diversity Managers ein, der eine permanente Überwachung des Themas und wachsende Sensibilität im ganzen Unternehmen sicherstellen soll.

Identitätsfindung. „Punktuelle Lösungen wirken wie das Pendant zu Greenwashing im Umweltdiskurs, also ein Sich-Reinwaschen, ohne wirklich viel zu ändern“, meint Sarah Held, Dozentin in der Abteilung Fashion & Technology an der Kunstuniversität Linz. In ihrem aktuellen Lehrplan befasst sie sich unter anderem mit dem „Ethical Turn“ in der Modeindustrie, also dem Trend hin zu nachhaltigerer Mode, weg von Fast Fashion und neokolonialen Strukturen. „Eine grundlegende Kritik an kultureller Aneignung ist, dass sich die dominante Gesellschaftsgruppe nur die positiven Dinge einer marginalisierten Gruppierung herausnimmt, sich aber nicht mit den einhergehenden Diskriminierungsmechanismen beschäftigen muss. Am Beispiel der Hip-Hop-Kultur in den USA nimmt man sich die Musik, den Kleidungsstil und den Haarschnitt heraus, muss aber nicht mit Polizeigewalt leben.“

Designer Oskar Mestavaht kollaborierte für seine Frühjahrskollektion 2016 mit den Ashàninka.
Designer Oskar Mestavaht kollaborierte für seine Frühjahrskollektion 2016 mit den Ashàninka.Getty Images (Brenna Weeks)

Der Diskurs rund um kulturelle Aneignung hat aber für Held auch eine Kehrseite: Kulturelle Identität werde dadurch an einzelnen Elementen und Zeichen festgemacht, und diese Essenzialisierung verstärke genau die stereotypen Strukturen, die man eigentlich anprangern will. Außerdem stelle sich die Frage, wer über die vermeintlich richtige Nutzung kultureller Zeichen entscheiden dürfe. An diesem Punkt hakt auch der britisch-indische Autor und Theoretiker Kenan Malik ein, der leidenschaftliche Plädoyers zugunsten kultureller Aneignung in der „New York Times“ und „The Guardian“ veröffentlichte. Er schreibt: „Es stimmt, dass kultureller Austausch nicht auf Augenhöhe stattfindet, sondern von Rassismus und Ungleichheit geprägt ist. Um dagegen anzukämpfen, müssen wir allerdings gegen Rassismus ankämpfen, anstatt damit anzufangen, Kulturen zu beaufsichtigen.“

Ganz anders sieht das die Rumänin Andreea Diana Tănăsescu, Gründerin der NGO La Blouse Roumaine und Betreiberin des Instagram-Accounts @givecredit_. Als Designerin Tory Burch für ihre Kollektion vor zwei Jahren einen traditionellen rumänischen Mantel aus der Kleinen Walachei kopierte und Dior kurz darauf eine Weste aus Bihor als „Bohemian Chic“ in seine Kollektion integrierte, begann Tănăsescu unter den Hashtags #givecredit und #BihornotDior Bewusstsein für kulturelle Aneignung und das textile Kulturerbe Rumäniens zu schaffen. „In dieser Fast-Fashion-Kultur halten Modemarken Kulturen für selbstverständlich, replizieren rumänische Kleider teilweise bis ins Detail, ohne auf die Herkunft zu verweisen oder die Volksgruppen, die jene Designs von Generation zu Generation weitergegeben haben, dafür zu vergüten. Es ist verstörend und fühlt sich so an, als werde mir meine Identität gestohlen“, sagt Tănăsescu. Dabei sieht sie durchaus auch positive Möglichkeiten, andere Kulturen in das eigene kreative Schaffen zu integrieren.

Beigestellt

Ein Beispiel lieferte der brasilianische Designer Oskar Metsavaht für das Label Osklen. Für seine Frühlingskollektion 2016 ließ er sich von den Asháninka, einem Volk des brasilianischen und peruanischen Regenwalds, inspirieren. Mit seinem Team besuchte er die Volksgruppe, lebte in ihrem Dorf und lernte ihre Kultur kennen. Für die Verwendung traditioneller Stoffe und Tattoos bezahlte er die Asháninka. Die Kollektion ist nach dem Volk benannt, und eine begleitende Dokumentation auf der Osklen-Webseite schildert ihr tägliches Leben. Ähnliche Arbeitsprozesse lassen sich wahrscheinlich nur schwer auf die Modebranche in ihrer momentanen Ausrichtung anwenden. Vielleicht geht es aber auch mehr darum, was unterm Strich stehen bleibt: Respekt vor Herkunft und Kontext eines Kleidungsstücks und Kooperation auf Augenhöhe.

Die sozialen Ordnungshüter

Soziale Medien werden nicht mehr nur von Modeproduzenten für ihre Zwecke genutzt, auch Kritiker finden hier dankbare Plattformen. Die Rumänin Andreea Diana Tănăsescu will mit ihrem Account @givecredit_ mehr Bewusstsein für das textile Kulturerbe ihres Landes schaffen, aber auch allgemein auf kulturelle Aneignung in der Modebranche aufmerksam machen. Die inoffizielle Modepolizei der Social-Media-Kanäle mit mittlerweile sehr einflussreicher Präsenz läuft unter dem Namen @diet_prada. Ursprünglich widmete sich der Account ausschließlich plagiierten Modeentwürfen, in letzter Zeit hat er sich auch vermehrt des Themas „Cultural Appropriation“ angenommen. Die Account-Gründer Tony Liu und Lindsey Schuyler erhalten mittlerweile Informationen von einem ­ganzen Netzwerk an Modeinteressierten (den sogenannten „Dieters“) und konnten so mitunter frühzeitig auf die Diskussion rund um das jüngste Cover der deutschen „Elle“ oder die Dolce-&-Gabbana-Kampagne in Shanghai reagieren. Mit mobilisierbaren 1,6 Millionen Abonnenten kann ein Post von Diet Prada für schnelle Reaktionen der Kritisierten sorgen.

("Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 15.11.2019)

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