Interview

„Wir sind der wichtigste Wirtschaftsmotor in Österreich“

Michael Ludwig
Michael Ludwig(C) Michèle Pauty
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Wien könne sich nicht aussuchen, wer zuzieht, sagt Bürgermeister Michael Ludwig. Da die Stadt beim BIP pro Kopf dennoch ganz vorn liegt, scheue man keinen Vergleich.


Die Stadtregierung hat im November das Zukunftskonzept „Wien 2030“ vorgestellt. Die Stadt soll demnach ein Zentrum für Digitalisierung und Gesundheit werden. Was heißt das konkret?

Michael Ludwig: Ich habe bei meinem Antritt als Wiener Bürgermeister bereits gesagt, dass Wien zur Digitalisierungshauptstadt Europas werden soll. Ich bin auch überzeugt, dass wir sehr gute Rahmenbedingungen dafür haben. So gibt es viele Unternehmen, die sich schon mit Digitalisierung beschäftigen, zudem sind wir auch der wichtigste Universitätsstandort im deutschsprachigen Raum mit fast 200.000 Studierenden. Das Thema ist für uns als Wirtschaftsstandort insgesamt sehr wichtig. Denn es ist vergleichbar mit der industriellen Revolution und spielt in alle Lebensbereiche hinein, besonders stark in den Gesundheitsbereich.

Mit welchen konkreten Maßnahmen soll die Stadt attraktiver für Unternehmen aus diesen beiden Bereichen werden?

Einerseits wollen wir im Rahmen unserer Förderpolitik ganz konkrete Akzente in dem Bereich setzen, etwa bei wirtschaftsnahen Projekten aus der Wissenschaft zum Thema Digitalisierung. Dann geht es darum, die Infrastruktur danach auszurichten. So ist es kein Zufall, dass wir vor einigen Monaten genau hier am Rathausplatz gemeinsam mit den drei großen Anbietern von Telekommunikation erstmals 5G in Österreich ausgerollt haben. Und ein Beispiel aus dem Bereich Gesundheit: Viele Unternehmen in Wien stellen medizinische Instrumente wie Herzklappen, Stents oder Implantate her. Dafür brauchen sie Reinräume. Diese sind aber gerade für kleinere Firmen oft nicht finanzierbar. Hier wollen wir Abhilfe schaffen, indem wir eine Reinraum-Infrastruktur aufbauen, die von diesen Medizin-Start-ups genutzt werden können.

Der ehemalige Bundeskanzler Christian Kern hat Start-ups in den Mittelpunkt seiner Wirtschaftspolitik gestellt. Wollen Sie es ihm mit dieser Strategie gleichtun?

Nein. Die Wirtschaft ist ein komplexes System aus Großbetrieben, KMU und eben Start-ups. Ich konzentriere mich da nicht nur auf diesen letzten Teil. Darüber hinaus habe ich bei all diesen Themen ein gutes Zusammenspiel mit der Wirtschaftskammer und der Industriellenvereinigung in Wien. Für mich ist die Digitalisierung also auch ein Thema der Sozialpartner.

Das wichtigste Fintech Europas, N26, wurde von Wienern in Wien gegründet. Dann sind sie aber nach Berlin gegangen, weil dort das Umfeld besser war. Haben Sie eine Chance gegen Berlin?

Ja, davon bin ich überzeugt. Es gibt auch viele Betriebe, die aus anderen Ländern und anderen Städten nach Wien kommen. Im vergangenen Jahr haben sich in Wien mehr internationale Unternehmen angesiedelt als in den acht anderen Bundesländern zusammen. Wir sind also auf einem guten Weg. Beispielsweise war Wirtschaftsstadtrat Peter Hanke auch mehrmals in Berlin und London, um dort Werbung für den Standort Wien zu machen. Und wenn es einen Vorteil des Brexit gibt, den ich sonst sehr bedauere, dann ist es der, dass sich vermehrt Firmen aus Großbritannien in Wien ansiedeln Früher waren es sechs bis sieben pro Jahr, 2018 waren es 17.

Beim Thema Digitalisierung klagen Unternehmen häufig über Fachkräftemangel, der mit Spezialisten aus dem Ausland gefüllt werden müsste. Die OECD empfahl daher jüngst, man könnte beispielsweise für Fachkräfte die Lohnsteuern temporär reduzieren. Das ist zwar eine Bundesthematik, aber wäre das für Sie vorstellbar?

Steuerthemen muss man immer in ihrer ganzen Komplexität sehen. Wenn es Steuererleichterungen gibt, dann bedeutet das immer auch einen Entfall von Einnahmen für den Staat. Hier sollte man also nicht vorschnell entscheiden.

Gäbe es eine – zumindest teilweise – Steuerautonomie der Länder, könnten Sie diese Entscheidung treffen. Wären Sie für eine solche steuerliche Autonomie auf Landesebene?

Wir wären wahrscheinlich sogar Nutznießer davon. Aber wenn wir darüber diskutieren, dass wir eigentlich die Systeme europaweit harmonisieren wollen, dann hat es keinen Sinn, in einem so kleinen Land wie Österreich plötzlich verschiedene Systeme einzuführen.

Wien hat zu wenig Fachkräfte, aber auch zu viele Arbeitslose. Die Quote lag Anfang des Jahres noch bei über zwölf Prozent. Deutlich höher als in allen anderen Bundesländern. Wie erklären Sie sich das?

Das ist ein Symptom, dass es in den meisten Großstädten gibt. Die Jobs in Wien werden ja nicht nur für die ansässige Bevölkerung geschaffen, sondern auch für die 250.000 Pendler, die jeden Tag nach Wien kommen. Wir sind der wichtigste Wirtschaftsmotor in Österreich mit einem Bruttoregionalprodukt von 94 Milliarden Euro.

Beim Wirtschaftswachstum liegt die Stadt laut Zahlen der Statistik Austria zuletzt aber hinter den anderen Bundesländern.

Das glaube ich in der Form nicht. Außerdem hängt es mit der Frage zusammen, welche Schwerpunkte es in den Bundesländern gibt. In einer Hochkonjunktur wie zuletzt legt die Industrie stärker zu, also profitieren auch jene Länder, die stärkere Industrieanteile haben. Das ändert sich aber schlagartig, wenn die Wirtschaft stagniert.

Der Industrieanteil ist in Wien mit neun Prozent unter dem der Flächenländer. Passt Industrie noch in eine Großstadt wie Wien?

Ja, sehr. Die Industrie hat sich ja auch stark verändert. Sie bedeutet heute nicht mehr rauchende Schlote, sondern rauchende Köpfe – also einen Schwerpunkt auf Innovation. Und hier hat es im Bereich der Biotechnologie in den vergangenen Jahren in Wien tolle Entwicklungen gegeben. Und das wollen wir nun bei der Kommunikationstechnologie wiederholen.

Besonders interessant ist das BIP-Wachstum, wenn es auf die Einwohnerzahl heruntergebrochen wird. Demnach hatte Wien in den vergangenen zehn Jahren viermal sogar ein Schrumpfen des BIPs pro Kopf. Wächst die Stadt zu schnell für die regionale Wirtschaft?

Das Bevölkerungswachstum können wir uns nicht aussuchen. Wir können nicht regulieren, wer zu uns kommt. Wien ist sogar das einzige Bundesland ohne Außengrenze. Ich sehe es aber als ein Zeichen der hohen Lebensqualität, dass die Menschen gern bei uns leben. Und ich finde es bemerkenswert, dass eine Großstadt wie Wien mit einer sehr differenzierten Bevölkerung, die zu einem großen Teil aus den anderen Bundesländern stammt und auch eine große Zuwanderung zu bewältigen hatte, beim absoluten BIP pro Kopf nach wie vor auf dem ersten Platz liegt. Wir scheuen hier also keinen Vergleich.

Das Bevölkerungswachstum sorgt auch für mehr Verkehr. Wie sieht Ihre Lösung aus – auch mit Blick auf den Klimawandel?

Wir haben heute schon ein sehr gutes Verhältnis zwischen Individualverkehr und öffentlichem Verkehr. Letzterer wurde in den vergangenen Jahren auch stark ausgebaut. Hinzu kommt, dass das Jahresticket nur mehr 365 Euro kostet. Also pro Tag einen Euro. Das kostet die Stadt viel Geld, hat aber viele Menschen dazu gebracht, vom Auto auf die öffentlichen Verkehrsmittel zu wechseln. Wir haben heute mehr Besitzer einer Jahreskarte als Autobesitzer.

Ihr Koalitionspartner will ja zusätzlich auch den Individualverkehr weniger attraktiv machen – etwa durch den Rückbau von Straßen. Ist das für Sie eine Option?

Nicht als allgemeine Linie. Einerseits soll der Verkehr flüssig fließen, aber andererseits natürlich auch die Lebensqualität der Anrainer hoch sein. Hier gibt es immer einen Interessenkonflikt, den wir lösen müssen. Man darf nicht vergessen, dass wir seit 1999 ein Klimaschutzprogramm haben, an dem wir schon konsequent gearbeitet haben, bevor die Grünen noch in irgendeiner Regierung waren. Dadurch wurden gegenüber 1990 bereits 34 Prozent aller CO2-Emissionen eingespart.

Ihr Partner in der Stadtregierung wird wahrscheinlich auch in der nächsten Bundesregierung sitzen. Wird sich dadurch das Klima im Rathaus ändern?

Nein. Die Koalition in Wien funktioniert sehr gut. Und wir werden jetzt erst einmal sehen, was sich auf Bundesebene tut. Ich als Bürgermeister bewerte eine Bundesregierung nicht nach ihrer farblichen Zusammensetzung, sondern was diese Regierung bereit ist, für Wien zu tun. Die letzte Regierung hat sehr offensiv gegen Wien gearbeitet. Ich hoffe, dass sich das ändert.

In Wien soll regulär im Herbst 2020 gewählt werden. Wird diese Wahl vorverlegt werden?

Nein. Es gibt für mich keinen Grund, warum wir trotz der großen Instabilität auf Bundesebene früher wählen sollen.

ZUR PERSON

Michael Ludwig (58) ist seit Mai 2018 Bürgermeister und Landeshauptmann von Wien. Davor war der SPÖ-Politiker elf Jahre lang Wohnbaustadtrat. Ludwig wuchs in einem Gemeindebau in Floridsdorf auf und studierte an der Uni Wien Politikwissenschaft und Geschichte. Seine politische Karriere begann er 2004 als Bezirksrat in Floridsdorf. Im Vorjahr wurde er auf dem Parteitag der SPÖ Wien bei einer Kampfabstimmung mit 57 Prozent zum Nachfolger Michael Häupls als Vorsitzender der Partei gewählt. Von Häupl übernahm er auch die Leitung des Städtebunds.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2019)


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