Wissenschaft

Es gibt universelle Prinzipien in der Musik

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Symbolbild. (c) imago images/Pacific Press Agenc (Lev Radin via www.imago-images.d)
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Harvard-Forscher verglichen die Lieder verschiedenster Kulturen – und fanden viel Gemeinsames.

Musik ist die universelle Sprache der Menschheit“, sagte der Schriftsteller Henry W. Longfellow 1835. Ein hehrer Anspruch, aber sind musikalische Ausdrucksformen wirklich global verständlich? Sind sie nicht doch stark kulturabhängig? Psychologen um Samuel Mehr an der Harvard University nähern sich dieser alten Frage auf streng wissenschaftliche Weise, mit viel Statistik und mithilfe eines selbst zusammengetragenen Archivs, das sie Natural History of Song (NHS) nennen.

Denn auf Musik mit Gesang beschränken sie sich zunächst – und begründen das in Science (21.11.): In allen untersuchten Gesellschaften – von Hopi-Indianern über Highland-Schotten bis zu Singhalesen – singt man Lieder, und zwar mit Worten, nicht nur mit Summen oder sinnlosen Silben. Nach langen Voruntersuchungen wurden die Lieder nach drei Eigenschaften analysiert: Wie aufwendig (auf Englisch: „formal“) sind sie? (Also: Werden sie mit großem Ensemble vor viel Publikum vorgetragen oder nur in kleinem Rahmen?) Wie hoch ist ihr Erregungsniveau („arousal“)? Wie religiös sind sie?

Tanzen, lieben, schlafen, heilen

So kristallisierten sich vier Grundtypen heraus: Tanzlieder (stark aufwendig, hohe Erregung, geringe Religiosität), Schlaflieder, Liebeslieder und – schwer übersetzbar – Healing Songs (aufwendig, erregt und religiös). Die Frage war nun: Wie gut können Menschen aus unserer – der westlichen Kultur – erkennen, zu welcher Kategorie ein Lied einer anderen Kultur gehört? Die Antwort: erstaunlich gut. Am schwierigsten ist es bei den Liebesliedern, was die Autoren so illustrieren: Man vergleiche nur die Elvis-Presley-Songs „Love Me Tender“ und „Burning Love“, beide sind Liebeslieder . . .

Überraschend global ist auch die Harmonik: Wir finden auch in fremden Liedern das tonale Zentrum. Eine weitere Universalie scheint zu sein, dass ähnliche Gesetze wie das Zipfsche Gesetz in der Linguistik herrschen: Einige wenige, meist kurze Wörter kommen sehr häufig vor, viele Wörter dagegen selten. So gilt in der Melodik aller Kulturen: Kleine Intervalle sind häufig, große selten. Hinter solchen Regelmäßigkeiten, meinen die Autoren, stehe ein ästhetisches Prinzip: Schön sei, was weder zu monoton noch zu chaotisch sei, sondern „unvermeidlich und doch überraschend“, wie einmal ein Ingenieur die Musik Bachs beschrieben hat.

Es begann 1900 in Berlin

Es würde sich lohnen, die NHS-Datenbasis zu erweitern, kommentieren Tecumseh Fitch und Tudor Popescu, Biologen an der Uni Wien, in Science. Sie weisen auf die Geschichte der vergleichenden Musikologie: Im Jahr 1900 nahm der Berliner Psychologe Carl Stumpf, nachdem er Thai-Musiker gehört hatte, diese mit seinem frisch erworbenen Phonographen auf. Diese Aufnahme wurde zum Grundstein des Berliner Phonogramm-Archivs, mit dem Forscher nach Universalien der Musik suchten. Mit dem NS-Terror fand diese Forschung ein jähes Ende. Dass sie auch im angloamerikanischen Raum so spät wieder aufgenommen wurde, liegt wohl am lang herrschenden Dogma, dass kulturelle Faktoren – und Unterschiede – wichtiger seien als biologische Wurzeln – und Gemeinsamkeiten – menschlichen Verhaltens.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.11.2019)

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