Am Herd

„Valerie/die geht nie/abends in ihr Bett“

Kindern vorzulesen ist schön und nervig.
Kindern vorzulesen ist schön und nervig. (c) imago/Westend61 (Gemma Ferrando)
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So begann Marlenes Lieblingsbuch, so beginnt es noch immer. Neulich haben wir es wieder gelesen.

Ich habe eine Truhe. Sie steht am Fenster neben dem Lesesessel, dient als Ablage für Romane und Kaffeetassen – und sie bewahrt einen kostbaren Schatz: die gesammelten Bilderbücher meiner Töchter. Also nicht alle, aber die, die uns ans Herz gewachsen sind: „Oh, wie schön ist Panama“. „Die Kinder aus Bullerbü“. Und natürlich das „Mini“-Buch, das Christine Nöstlinger für Hannah signiert hat.

Neulich haben wir die Truhe nach vielen, vielen Jahren wieder geöffnet. Marlene suchte Mira Lobes „Valerie und die Gute-Nacht-Schaukel“. Valerie soll schlafen gehen, aber sie will lieber schaukeln und sich dabei die tollsten Geschichten ausdenken, in denen sie ein Schiff durch die raue See steuert, Girafferiche herumkommandiert oder ins Turbanland fliegt: „Turbanland ist weit und groß, auf den Gassen und Terrassen und den Straßen ist was los.“ Das können Marlene und ich immer noch auswendig.

Kindern vorzulesen ist schön und nervig. Schön, weil sie einem dabei so nah sind und so aufmerksam, weil die kleinen Körper noch so weich sind und kuschelig. Nervig, weil man ja meistens am Abend vorliest, und dann ist man selbst müde, oh wie schön wäre es, jetzt einfach die Augen zumachen zu können, und für Kinder, die nicht schlafen wollen, die um „nur noch eine Seite“ betteln oder gar ins Turbanland fliegen möchten, fehlt einem oft das Verständnis.

Esel Benjamin. Wir mussten gar nicht lang in der Truhe kramen, da fanden wir das Buch. Wir bliesen den Staub von den Seiten und fingen an zu lesen. Einen Absatz Marlene, einen ich. Nur die Passage „Da fängt Papa an zu schelten, und das tut er wirklich selten, nur wenn er nicht anders kann“, rezitierten wir gemeinsam, denn das ist unser Lieblingsvers: „Schluss mit Rodeln, Stopp und Halt, Schnee im Nachthemd ist zu kalt.“

Als Valerie endlich im Bett war, lasen wir noch weiter. Vom Esel Benjamin, der mit Susi auf einer griechischen Insel herumstrolcht – und dabei gehen die beiden fast verloren! Vom Schlafschaf Erich, das in einer New Yorker Wäscherei landet. Und vom kleinen Häschen, das sagt: „Mama, ich mag dich nicht!“ Immer schimpft sie gleich, dauernd holt sie ihn vom Kindergarten zu spät ab: „Mich hetzt du und ziehst und zerrst, und selber trödelst du rum.“ Verblüffend, woran sich Marlene erinnern kann. Dass Benjamin immer das Waschwasser austrinkt, zum Beispiel. Oder dass Josefines Mama völlig fertig beim Frühstück sitzt und ausschaut wie ein Pandabär. „So wie du, wenn du vergessen hast, dich abzuschminken.“

Wir lasen weiter und weiter, Marlene kuschelte sich an mich, als wäre sie klein, und auch wenn es schon spät war: Ich war gar nicht müde. ?

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.11.2019)

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