Politischer Wandel in Europa: Wähler wollen Wahrheit

Waehler wollen Wahrheit
Waehler wollen Wahrheit(c) Reuters (Toussaint Kluiters)
  • Drucken

In Europa schlägt die Stunde der Wahrheit. In den Niederlanden siegten die Liberalen, weil sie hartes Sparen ankündigten. Fünf Thesen zum Wandel der Politik in Europa.

Erstaunlichen Erfolg bei Wahlen haben derzeit Parteien, die den Bürgern reinen Wein einschenken und harte Einsparungen ankündigen. So gewann am Mittwoch in den Niederlanden Mark Rutte die meisten Stimmen. Der ehemalige Unilever-Manager und Chef der Liberalen versprach nicht Milch und Honig, sondern Blut, Schweiß und Tränen: nämlich Budgetkürzungen im Umfang von 20 Milliarden Euro, höhere Steuern und ein späteres Renteneintrittsalter.

These 1: Wahrheit ist zumutbar

Der Schock der Griechenland-Krise shat tiefe Spuren im Bewusstsein Europas hinterlassen. Aufrufe zur kollektiven Kraftanstrengung treffen seither auf fruchtbaren Boden. Einem bemerkenswert hohen Anteil der Wähler ist die Wahrheit zumutbar: Es muss gespart werden.
Das hat vor eineinhalb Wochen in Tschechien auch Karl Schwarzenberg eindrucksvoll bewiesen. Im Wahlkampf schickte der Fürst jedem Haushalt einen Erlagschein über umgerechnet mehr als 4000 Euro, um die Pro-Kopf-Verschuldung des Landes zu veranschaulichen. Seine liberal-konservative Top 09 kam trotzdem aus dem Stand auf mehr als 17 Prozent. Die Sozialdemokraten, die höhere Sozialleistungen versprochen hatten, mussten sich mit enttäuschenden 22 Prozent begnügen.

These 2: Die Linke blutet aus

Die Linke ist nicht in der Lage, Profit aus der Krise des Kapitalismus zu schlagen. Wirtschaftliche Lösungskompetenz ordnen die Wähler eher liberalen und konservativen Parteien zu. Für den Entwurf eines Gegenmodells fehlt es der Linken an intellektueller Kraft und Glaubwürdigkeit. Seit Jahren schon besteht ihre Raison d'être darin, den Wohlfahrtsstaat zu verteidigen. Doch auch jetzt kommen sie nicht aus der Defensive. Sogar dort, wo die Macht noch rot oder rosarot schimmert, muss der Wohlfahrtsstaat unters Messer, um Schulden abzubauen.
sJede Wahl in Europa hat ihre eigenen Gesetze. Gemeinsam war jedoch (fast) allen, dass die Sozialdemokraten entweder abstürzten oder stagnierten. In Deutschland fuhr die SPD ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 ein. In Ungarn wurden die Sozialdemokraten von der Macht verjagt. Auch in Großbritannien endete nach 13 Jahren die Ära der Labour-Party. In den Niederlanden schickten die Sozialdemokraten mit Job Cohen den weitaus populärsten Kandidaten ins Rennen – und verloren trotzdem Sitze. Einzig in Griechenland konnte die Linke im Oktober 2009 die Wahl gewinnen, was Giorgos Papandreou seither vermutlich schon öfter bereute.

These 3: Wahlen sind Abwahlen

Wahlen sind in den meisten Fällen Abwahlen. Der Amtsbonus hat sich in einen Malus verwandelt. Auch von dieser Regel gibt es Ausnahmen: Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hielt sich an der Macht, allerdings mit dem miserabelsten Unionsresultat seit 1949. In Ungarn, Griechenland, Großbritannien und den Niederlanden führten die Bürger einen Machtwechsel herbei, in Tschechien erzwangen sie eine neue Koalition.s

These 4: Multipolare Parteienwelts

Ein Megatrend setzt sich nahezu unvermindert fort: Großparteien schrumpfen zu Mittelparteien. Das Parteienspektrum fächert sich auf. Die Zeiten der Zweiparteiensysteme sind vorbei, sogar im Königreich des Mehrheitswahlrechts: Die Tories mussten eine Koalition mit den Liberalen eingehen, um regieren zu können. Ein eindrucksvolles Gegenbeispiel bietet Ungarn, wo der rechtsliberale Fidesz mit beinharter Oppositionspolitik eine Zweidrittelmehrheit erobert hat (siehe Thesen 2 und 3).

These 5: Liberale profitieren

Von all diesen Trends, von der neuen Lust an der Wahrheit ebenso wie von Abneigung gegen regierende Parteien, profitiert eine Ideengemeinschaft, die ihre besten Zeiten fast 150 Jahre hinter sich hat: die Liberalen. Schon bei der Wahl in Deutschland errang die FDP fast 15 Prozent. In Großbritannien schafften es die Liberaldemokraten mit 22 Prozent in die Regierung. Und in den Niederlanden wird wohl erstmals seit 1918 wieder ein Liberaler Premier.
Mehr als 30 Jahre nach Gründung der mittlerweile welken Grünen wäre die Zeit reif für eine neue Bewegung. Doch dafür gibt es keine Idee, die weit genug trägt. Den Liberalen gelingt es am besten, diese Leerstelle zu füllen. Abseits von Bevölkerungsgruppen, die für Populismus anfällig sind, wächst die Sehnsucht nach vernünftigen modernen Alternativen: Geradlinige Typen wie Nick Clegg und Mark Rutte treffen diese Gefühlslage. ss-8;0Die Reihen ihres Zielpublikums der Gebildeten und Erfolgsorientierten werden sich im postindustriellen Zeitalter weiter füllen. Und damit wird auch der Teil der Welt größer, der sich nicht täuschen lassen will.
Wie schnell der Zauber der Liberalen verfliegen kann, wenn sie an der Macht sind, zeigt die FDP: Sie ist in Umfragen auf fünf Prozent abgestürzt.

(Die Presse, Printausgabe, 11. 06. 2010)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Parlamentswahl: Niederlande rücken nach rechts
Außenpolitik

Parlamentswahl: Niederlande rücken nach rechts

Die rechtsliberale Partei für Freiheit und Demokratie siegt knapp vor den Sozialdemokraten. Auch der Rechtspopulist Geert Wilders legt zu. Die Regierungsbildung dürfte schwierig werden.
Im Sucher

Mark Rutte: Ein Junggeselle startet durch

In den Niederlanden wird der Chef der Rechtsliberalen, Mark Rutte, kurz vor der Parlamentswahl bereits als neuer Premier gehandelt.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.