Wenn die Stadt verstandelt wird oder: Wo bleibt die Stadtbild-Sanitärkommission?
Und wieder ist er über uns hereingebrochen, wie jedes Jahr zur nämlichen Zeit, und wieder steht die Fachwelt schaudernd vor den erschreckenden Symptomen dieses Infekts, der jedes Jahr zur nämlichen Zeit den Stadtkörper befällt – und das mit beständig steigender Vehemenz. Die Rede ist vom sogenannten Morbus mercatus adventus, hierorts als Christkindlmarkt-Syndrom geläufig, der, so viel kann nach Meinung namhafter Experten verbindlich gesagt werden, in Wechselwirkung mit der weitverbreiteten Consumitis nervosa auftritt, welche sich ihrerseits gegen Mitte Dezember zur Consumitis acuta steigert und nicht selten gegen Silvester in einem Exitus pecuniae ihr erschütterndes Ende findet.
So geheimnisvoll die Pfade, auf denen sich das Christkindlmarkt-Syndrom verbreitet, so simpel die Diagnose, findet es doch regelmäßig in lokalen Konzentrationen brauner Bretterpusteln, sogenannter Christkindlmarkt-Standeln, seinen sichtbaren Ausdruck, die häufig von grünen Reisigapplikationen, fallweise von allerlei Girlanden konturiert sind, eine verquält jodelnde Alpinrustikalität imaginierend, die aufs Schmerzhafteste mit ihrer urbanen Umgebung in Widerstreit tritt.
Diese Standel-Exantheme, früher auf wenige Zonen des Stadtkörpers beschränkt, brechen mittlerweile fast schon ubiquitär ab Mitte November aus Asphalt-, Beton- und Pflasterdecken, sodass es nicht übertrieben scheint, in diesem Zusammenhang von einer weitreichenden Verstandelung der Stadt zu sprechen. Spätestens ab Jahreswechsel klingen die schlimmsten Symptome zwar wieder ab, freilich nur, um kein Jahr später mit vermehrter Intensität wiederzukehren.
Auf die Einleitung von Notfallmaßnahmen durch eine Stadtbild-Sanitärkommission ist leider nicht zu hoffen – an einer solchen fehlt es seit Jahren (und nicht nur in diesem Stadtbild-Krankheitsfall).
E-Mails an:wolfgang.freitag@diepresse.com
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2019)