Randerscheinung

Ein paar Minuten Unschärfe

(c) Carolina Frank
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Das Lesen der Uhr mit Zeigern und Zifferblatt gehört wohl zu jenen Kulturtechniken, die nach und nach verloren gehen werden.

Der Jüngste und ich sind gerade auf dem Weg zur Haltestelle, an der der Schulbus hält. „Wie spät ist es denn?", fragt der Bub mich, weil wir zu Hause noch ein bisserl getrödelt haben heute. „Da schau nach", sage ich und halte ihm im Gehen meine Armbanduhr zum Üben hin. Weil der Jüngste kann für einen Neunjährigen schon wahnsinnig viel, wie ich als völlig neu­traler Bobachter hier wirklich einmal festhalten muss, aber er kann nur sehr unzuverlässig die Uhr lesen. Ja, wirklich! „Es ist sieben Uhr und zwanzig und irgendwas, ich glaub fünfundzwanzig", sagt der Jüngste genervt, und: „Warum kann auf deiner blöden Uhr nicht, wie auf jeder normalen Uhr, einfach stehen, wie spät es ist?", fragt er mich. „Tut es doch, es ist 7 Uhr 27, und meine Uhr geht immer ein bisschen nach, also ist es wohl ungefähr so halb acht, also geht in circa sechs Minuten der Bus", sage ich, „wir schaffen es rechtzeitig."

Das Lesen der Uhr mit Zeigern und Zifferblatt gehört wohl zu jenen Kulturtechniken, die nach und nach verloren gehen werden. Und mit ihr vielleicht auch ein bestimmtes Reden über Zeit (kurz vor vier, gegen halb acht, dreiviertel sieben oder eben viertel vor), das auch einen flexibleren Umgang mit Stunden, Minuten und Sekunden ermöglicht. Weil ob es gegen halb vier, kurz nach elf, viertel neun ist oder eben ganz genau „9:17" oder „9:13" (bitte stellen Sie sich den Doppelpunkt in der Mitte blinkend vor), macht schon einen ziemlichen Unterschied. Und ich behaupte einmal, wir leben alle lieber in einer Welt, wo diese paar Minuten Unschärfe keine Rolle spielen. „Papa, wir müssen uns beeilen", sagt der Jüngste, weil gerade am Weg in die Schule eben doch jede Minute zählt. Der Bus kommt nämlich genau um 7:36 – und dabei blinkt der Doppelpunkt zwischen den Zahlen bedrohlich.

("Die Presse - Schaufenster", Print-Ausgabe, 29.11.2019)

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