Denn „die“ Geschichte gibt es nicht: Über das Erzählen

So erzählen Kinder: „. . . und dann . . . und dann . . .“ Ein Erzählen ohne Höhepunkt. Aber ein Erzählen.
So erzählen Kinder: „. . . und dann . . . und dann . . .“ Ein Erzählen ohne Höhepunkt. Aber ein Erzählen. (c) Wolfgang Freitag
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Warum wir erzählen, darauf gibt es mehr als eine Antwort. Über Charlie Chaplin, Josef K. und die Zeitzeugenschaft.

Zwei Szenen, die uns die tiefste Befindlichkeit des 20. Jahrhunderts vor Augen und Ohren und vor unsere Herzen führen: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ So beginnt „Der Process“ von Franz Kafka. Bis zum Ende des Romans weiß der Protagonist nicht, warum er verhaftet worden ist.

In der anderen Szene sehen wir, wie Charlie, der Tramp, in Chaplins Film „Modern Times“ als Versuchsperson in eine Maschine geklemmt wird, die ihn auf rationelle Weise füttern soll, so dass für die Mahlzeiten der Arbeiter so wenig Zeit wie möglich vergeudet wird und der Profit für den Fabrikherrn so groß wie möglich ausfällt.

Beide, Josef K. und der Tramp, wissen nicht, was mit ihnen geschieht. Niemand hat es für nötig erachtet, sie darüber zu informieren. Und das, obwohl an den tiefsten Kern ihrer Existenz gerührt wird – im Fall des Tramps ist es die Ernährung und damit das Leben in seiner basalen Form, und im Fall von Josef K. ist es die Selbstbestimmung, die allerletzte Bastion menschlicher Freiheit. So sieht die radikalste Form des Totalitarismus aus: Wenn die Macht, die dich beherrscht, es nicht einmal mehr für nötig hält, dir zu sagen, was mit dir geschieht, geschweige denn, warum es geschieht. Dann bist du aus aller Erzählung gefallen.

Im absoluten Totalitarismus wird nicht mehr erzählt. Weil niemand weiß, was eigentlich geschieht.

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