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"Robin Hood" rüttelt an Merkels Koalition

Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken jubeln nach Bekanntgabe der Stimmergebnisse. Berlin, 30.11.2019. Berlin Deutschl
Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken jubeln nach Bekanntgabe der Stimmergebnisse. Berlin, 30.11.2019. Berlin Deutschlimago images/photothek
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Die SPD zieht nach links, die Regierungskritiker Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans gewinnen die Wahl um den SPD-Vorsitz. Vizekanzler Olaf Scholz scheitert.

53,06 Prozent. Es ist nur eine Zahl, die am Samstag um 18.10 Uhr im Atrium des Willy-Brandt-Hauses, der SPD-Zentrale, verkündet wird. Aber die Zahl hat die Kraft, die Karriere von Vizekanzler Olaf Scholz zu beenden. Vielleicht auch die Große Koalition zu sprengen. Und zu Ende gedacht, auch die Ära Angela Merkels. 53,06 Prozent der SPD-Mitglieder votierten in einer Urwahl des SPD-Vorsitzes für das Duo Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken. Die SPD rückt damit nach links. Sie wählt die radikalere Variante. Sie zieht zwei im Bund unerfahrene Politiker dem Vizekanzler Olaf Scholz vor, der an der Seite von Klara Geywitz eindeutig für den Fortbestand der Koalition geworben hatte. Doch das pragmatische Duo erhielt nur 45,33 Prozent der Stimmen.

Zwei Koalitionskritiker führen fortan eine Koalitionspartei an: Niemand kann sagen, wie lange das gut geht.

Scholz gilt als Dauerlächler. Doch an diesem Samstagabend tut er sich sichtlich schwer, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Es ist der bitterste Moment seiner Karriere. Scholz hält sich kurz: Hinter der neuen Parteiführung „müssten sich nun alle versammeln“, sagt er. Viel mehr sagt er nicht. Der 61-Jährige ist nun als Vizekanzler beschädigt. Auch wenn am Samstagabend sein Umfeld streut, dass er das Amt behalten will.
Saskia Esken strahlt dagegen über beide Ohren. Vor wenigen Monaten kannten den Namen der Abgeordneten aus dem Schwarzwald nur Experten für Digitalpolitik. Jetzt soll die 58-Jährige mit Walter-Borjans die älteste Partei Deutschlands anführen. Esken zitiert am Samstag Franz Müntefering, der den SPD-Vorsitz einmal als „das schönste Amt neben dem Papst“ bezeichnet hatte. Dass sie nun für diesen Posten nominiert sei, das sei schon „ziemlich großartig“.

Knapp sechs Monate ist es her, dass Andrea Nahles, die erste Frau an der Spitze der SPD, als Parteichefin aufgegeben hatte. Die SPD wollte danach durchlüften. Erstmals nach 1993 sollten wieder die knapp 426.000 Mitglieder die Führung bestimmen. Zweite Neuerung: Man wünschte sich eine Doppelspitze aus Frau und Mann. Doch es setzte reihenweise Absagen der natürlichen Favoriten. Beliebte Ministerpräsidenten wie Stephan Weil winkten ab. Denn das „schönste Amt neben dem Papst“ ist längst ein Schleudersitz. Auch Scholz wollte zunächst nicht Chef werden. Er überlegte es sich anders.

Ohrfeige für SPD-Establishment

Der Finanzminister war das Schwergewicht in den Castingshows der anfangs 17 Kandidaten. Der Bekannteste. Der Erfahrenste. Der Kandidat des Establishments. Die wichtigsten SPD-Minister unterstützten Scholz, genauso wie die überwältigende Mehrheit der Bundestagsfraktion. Aber das half nichts.

Denn Scholz, der kühle Hanseat, fremdelt mit der Basis. Er ist ein begnadeter Netzwerker, aber kein mitreißender Redner, was ihm dereinst den Spitznamen „Scholzomat“ einbrachte. Vor allem aber ist er das Gesicht der Regierung. Er hat jenen Kurs mitgestaltet, der die SPD in jüngsten Umfragen hinunter auf 13 Prozent führte. Ein Debakel für Deutschlands stolze Sozialdemokratie.

Die schwachen Umfragewerte schüren die Sehnsucht nach mehr reiner Lehre. An diesem Punkt setzte Walter-Borjans an, den sie in der Partei nur „Nowabo“ nennen. „Die SPD macht „viel zu oft den Kompromiss zur Verhandlungsbasis“, klagte Nowabo und kündigte an, die SPD aus der „neoliberalen Pampa“ zu führen. Ein begnadeter Rhetoriker ist auch der 67-Jährige nicht. Doch wie der Brite Jeremy Corbyn oder Bernie Sanders in den USA fliegen auch ihm, dem älteren Parteilinken, die Herzen des Nachwuchses zu.

Die Jusos um Kevin Kühnert verehren ihn als „Hero“ und als „Robin Hood“, weil er in seiner Zeit als Landesfinanzminister (2010 bis 2017) im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen Steuersünder-CDs aus der Schweiz angekauft hatte. Seine Zeit in der Politik schien aber schon vorbei. Der Sohn eines Schreiners ging unter die Autoren, stellte ein Buch vor: „Steuern. Der große Bluff“.

Nowabo und Esken schwebt ein 500 Milliarden Euro schweres Investitionspaket im nächsten Jahrzehnt vor. Sie wollen auch am Klimapaket und an der schwarzen Null rütteln, dem CDU-Markenkern. Das Duo wird nun auf einem Parteitag ab 6. Dezember gekrönt. Dort könnten sie den Delegierten raten, CDU/CSU Bedingungen für den Fortbestand der Koalition zu stellen. Also nachzuverhandeln.
Doch die CDU sehnt sich selbst nach mehr Profil. Und Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte sich eigentlich schon festgelegt: „Der Koalitionsvertrag wird ganz sicher nicht neu verhandelt.“

DAS LINKE DUO

Saskia Esken (58) sitzt seit 2013 im Bundestag. Sie gilt als Expertin für Digitales. Die Regierung sieht sie sehr kritisch.

Norbert Walter-Borjans (67) aus Köln war von 2010 bis 2017 Finanzminister in Nordrhein-Westfalen, zuvor auch Regierungssprecher und Staatssekretär.

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